44. jetzt blicke ich durch

44. jetzt blicke ich durch


Der Regen hatte nachgelassen. Es schien ein heller Sonnentag zu werden, als Crystal singend auf dem

Küchenfussboden kniete und die Reste des trockenen Hundefutters abkratzte, das sich auf dem

Linoleum in der Nähe des Fressnapfs festgesetzt hatte. Sie wusste, dass Spotting bei ihren raschen

Handbewegungen zuschnappen würde, so dass sie vor dem Haus hatte festbinden müssen.

Crystal dachte nach dem Erwachen über ihren bevorstehenden Geburtstag nach und meinte, dass

es zum Feiern eigentlich keinen Grund gäbe. Wenn sie sich als wertlos empfand, fing sie gewöhnlich

an das Haus zu reinigen um ihrem Leben wieder etwas Sinn zu geben. Das Reinemachen half ihr

dabei ihr Bewusstsein von Spinnweben zu befreien und blies daraus den angehäuften Staub fort. Die

Handlung gab ihr etwas zu tun, als sonst alles um sie herum nicht mehr im Lot und pervertiert war.

Vor kurzem hatte sie den Typ wieder getroffen, an den sie hatte denken müssen seit dem heissen

Sommertag, als sie sich im Schwimmbad begegnet waren und er ihren Kühlschrank in Augenschein

genommen hatte. Niemand hatte jemals ihre Welt derart verwirrt wie er und seitdem war sie wie

umgewandelt. Doch hatten Hoffnungslosigkeit und die Hemmung initiativ zu werden sie langsam

überw.ltigt. Die einzigen konkreten Fakten, über die sie verfügte, waren die Marke seines Autos

und die Tatsache, dass er es im Grid parkte. Hin und wieder, überw.ltigt durch Lustgefühle, war

sie durch die Strassen jenes Stadtteils gewandert auf der Suche nach einem Ford Galaxy 5OO. Auf

diesen Jagdzügen hatte sie europäisch aromatisierte Fruchtsäfte mit Eiswürfeln und Energiepulver

probiert und viele Stunden damit verbracht Latte macchiato in einem der zahlreichen Bohème-

Cafés getrunken. Beim Tanken in einem Minimarkt war sie auf ihren Mann gestossen und hatte ihm

das Versprechen abgerungen sie anzurufen. Sie hatten verabredet eine Poesielesung zu besuchen

oder Billard zu spielen. Das lag nun schon einige Tage zurück; so wartete sie noch immer auf seinen

Anruf.

Betrübt und verwirrt wendete sie sich kurz von dem Tierfutter ab und dachte einen Augenblick

daran das Leben überhaupt nicht mehr zu geniessen. Vielleicht wäre es besser den Rest ihrer Tage als

sanfte Country-and-Western-Sängerin zu verbringen oder vielleicht eher noch als religiöse Fanatikerin,

die an Bushaltestellen erbauliche Heftchen verteilt. Ich glaube, ich brauche Medikamente. Vielleicht

sollte ich ins Kloster gehen, meine Zunge ausreissen, meinen Körper mit Narben übers.en und

nur noch Brot kneten. Wenn ich doch nur mit Gott reden könnte und er mich von meinen Hormonschüben

befreite.

Nachdem sie die Unordnung in der Abstellkammer behoben hatte, ging sie zum Porzellanschrank

im Wohnzimmer. „Hallo“, sagte sie, als sie die chinesischen Figurinen abstaubte, „ich muss etwas

Geheimes gestehen.“ Sie blickte in ein Porzellangesicht. „In der letzten Nacht habe ich geträumt eine

Prinzessin zu sein und deshalb bekomme ich auch keine Liebhaber, so dass ich mein Leben in einem

Elfenbeinturm verschwinden muss.“

Sie ertappte sich dabei, wie sie eine Figurine durch den Raum schleudern wollte und ausholte,

aber doch nicht losliess. Stattdessen stellte sie diese in das Einbauregal zurück, setzte die Unterhaltungsanlage

in Gang und wählte eine Talkshow-Sendung. Da die Teilnehmer ihren Seelenmüll

absonderten, ignorierte sie ihr Gebrabbel, reinigte sie das Zimmer und war intensiv auf der Suche

nach ihrem inneren Wesen. Sie stellte sich Fragen nach ihrer Persönlichkeit, die sie jedoch nicht zu

beantworten vermochte.

Warum sage ich zu unbekannten Menschen manchmal so Blödes und Banales? Sage ich es nur

des Gespräches wegen? Weshalb erzählte ich dem Kaffeetyp im Hurry-Upper-Bibelklub in Fresno,

dass ich gern meinen Kaffee billig im Volumen Markt kaufe. Wieso finde ich es eigentlich so interessant

Prediger Dans Söhne zu ärgern? Was soll das Gutes bringen?

´

Warum stimme ich zu, wenn ich doch das Gegenteil denke? Immer wenn ich mit Männern rede,

endet’s im Desaster. Ich weiss nicht, wohin ich sehen soll. Sollte ich mich auf einen Körperteil konzentrieren

oder auf alle? Sollte ich ihm in die Augen sehen oder auf seine Nase?

Während sie noch nachdachte, ordnete sie den Stapel Zeitschriften neben dem Sofa, nahm das

schmutzige Geschirr vom Kaffeetisch und stellte den Geschirrspüler an. Sie lehnte sich an die Arbeitsplatte

um eine Weile über ihr Verhalten nachzusinnen.

Sie war wirklich eine etwas sonderbare Frau, die unversehens auf den Flügeln des christlichen

Fundamentalismus zu Starruhm gelangt war. Wenn ihre Cousine nicht krank geworden wäre, würde

sie weiterhin um die mit Dollarnoten und Prolls umgebenen Tische des Clubs 400 herumlaufen. Was

zunächst als eine grosse Chance für sie ausgesehen hatte, war zu einer Art Alptraum geworden. Auf

der Bühne lernte sie sich den Regeln des Establishments gemäss zu verhalten. Es war eine gespaltene

Welt: auf der einen Seite die falschen hohen moralischen Ansprüche der Kirche und andererseits die

animalische Wirklichkeit der Sexualität. Sie hatte sich Ansehen erworben bei den unbeirrbaren gläubigen

Christen, obwohl sie eigentlich unbeholfen, schüchtern und sexuell bereit war.

Was ihr Aussehen betraf, war alles positiv für sie: makellose Haut, volle Lippen, eine hübsche wohlgeformte

Figur je nachdem, wie sie diese zur Wirkung brachte, genügend Geld um sich Kleidung der

neueste Mode zu leisten und ein hoher Bekanntheitsgrad, so dass sie ihre Augen hinter hinter kostspieligen

Designerbrillen verbarg. Aber Männern gegenüber war sie äusserst unsicher.

Ihr mangelndes Selbstbewusstsein führte sie auf ihre Erziehung zurück, auf ihre Herkunft aus

einer zerrütteten Familie. Ihr Vater hatte sie dauernd gehänselt wegen ihres Äusseren und ihres Verhaltens

und darauf bestanden der richtigen Erziehung wegen nach Chico zu ziehen. Im Süden des

Valleys hatte ihre Mutter eine lockere Auffassung von Erziehung praktiziert, die es ihr gestattet hatte

sich so zu entwickeln, wie es ihr gefiel. Die Gegensätzlichkeit der Charaktere war ihrer Meinung nach

die Ursache für ihre Unsicherheit. Erst nachdem sie nach einer Scheinschwangerschaft in einer

Zwangsehe gelandet war, hatte sie der Nähe ihrer Eltern entkommen und ein eigenes Leben beginnen

können. Das Halten eines Cocktailglases in der linken oder rechten Hand um Ansprechbarkeit

zu signalisieren? Was sollte man mit einem abgeknabberten Olivenkern machen oder was, wenn

jemand in der Nähe Luft abliess? Eine berühmte Persönlichkeit, einen Freund, ihre Patentante nachahmen

oder nicht? Sie war sich nie sicher, ob sie übertrieben oder oberflächlich jemanden willkommen

geheissen hatte und ob Sex beim ersten Zusammentreffen heutzutage überholt war. Ihre

Paranoia wurde extrem, wenn andere sie absichtlich lange ansahen, denn ihr war nicht klar, ob sie

etwas Besonderes in ihrem Gesicht betrachteten oder schlicht zu verstehen versuchten, was sie gerade

gesagt hatte oder ob sie einfach nur kurzsichtig waren.

Sie schaute aus dem Küchenfenster und hoffte das Galaxy zu sehen und stellte für sich fest, dass

per Anhalter zu reisen möglicherweise schneller wäre als zu warten, dass der Liebeszug an ihrem

Bahnhof halten würde.

Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück und ging gedankenverloren mit dem Fusselentferner gegen

die Hundehaare auf dem Sofa vor. „When am I going to meet my guy? I am so lonely, so lonely, I could

die“, sang sie und holte den Staubsauger aus der Abstellkammer.

Sein Rauschen machte den Hund ganz wild, der an der Hintertür bellte und sich dagegen warf um

hereingelassen zu werden, um das bösartige Gerät anzugreifen und zu vernichten. Sie beschloss aufzuhören

um ihn zu füttern und beruhigte ihn mit einer Tablette.

Sie lief durchs Haus und stellte fest, dass die Fenster mal wieder geputzt werden mussten. Im

Wohnzimmer fing sie an. Den Haustierpsychosender schaltete sie ein, sprayte ein grosses Fenster

mit Windox ein, wurde aber abgelenkt durch die Übertragung der Untersuchung eines Schäferhundes.

Man sprach zunächst darüber, wie schwierig es gewesen war den Hund überhaupt ins Studio zu

führen und dass er beim Anblick der Psychologin ruhig geworden war. Sie unterhielten sich darüber,


dass die Halterin jegliche Hoffnung verloren hatte, ihn jemals davon abzubringen andere Lebewesen

anzugreifen. Die Frau legte ihre Hände auf ihn zur Verbindung mit seinem Unterbewusstsein.

Plötzlich war die Psychologin ganz still und sagte der Besitzerin, dass er als Welpe vernachlässigt

worden wäre. Deshalb griff er alle an, die um die Aufmerksamkeit der Halterin konkurrierte. Sie ging

in die frühere Lebens zurück und erklärte, er wäre damals als Pudel von einem Speiseeiswagen überfahren

worden. Die schockierte Frau berichtete, dass er wie verrückt wirkte, wenn er Kinderlieder

hörte und auch, dass sie den Schäferhund nur mit grosser Anstrengung davon abhalten konnte den

Garten zu zerstören.

Empfohlen wurden eine Nahrungsveränderung und Medikamente. Beruhigungsmittel wären

schon richtig. Auch schlug sie vor an einem von ihr konzipierten Seminar teilzunehmen, von dem

es auch einen Videofilm gab zum Vorteil für diejenigen, die nicht selbst nach Los Angeles kommen

könnten.

Crystal besass das Video schon; es hatte ihr viele Ratschläge geliefert zur Verbesserung ihres Verhältnisses

zu ihrem Jack-Russell-Terrier Spotting. Sie hatte hatte erfahren, wie sie mit ihm durch Blickkontakt

und Lecken ihrer Lippen kommunizieren, wie sie ihn massieren könnte und wie sie den

Zeitpunkt erkennen könnte, zu dem er operativ von seinem Sexualtrieb befreit werden sollte. Auch

enthielt das Video Tipps, um den Hund zu trainieren, seinen Darm auf den Rindstein und nicht auf

dem Gehweg oder an Bäumen zu entleeren.

Es gab eine Werbepause und Crystal unterbrach ihre Fernsehtrance um sich mit Papiertuch und

Windox in den Händen in einem Bad von Sonnenstrahlen wiederzufinden.

Sie hörte das Klappern des Briefkastens und das Bellen des Terriers, als der Postbote gekommen

war. Automatisch ging sie die Post holen: eine Karte von der Mutter, einen Geburtstagsgruss von ihrer

Patentante in Fresno und einen Brief vom Vater. Dann heftete sie eine Notiz für Spottings Entwurmung

im Pudelsalon an den Kühlschrank und liess sich auf die Couch fallen. Die Unterhaltungsanlage

stellte sie leiser, öffnete den Brief von ihrem Vater und begann zu lesen:


Liebe Crystal,

Hallo, Töchterchen. Zunächst wünsche ich Dir alles Liebe und Gute zum Geburtstag. Ich habe Dir

einen Scheck beigelegt.

Es gibt etwas Besonderes zu berichten. Vielleicht war es ein Wink Gottes oder ich sehe die Situation

einfach nur anders als bisher; aber ich habe beschlossen zu heiraten.

Mein Leben ist recht einsam gewesen. Die Farm stand immer an erster Stelle. Nun ist mir schmerzlich

bewusst geworden, dass ich niemanden habe. Ich entdecke eine neue Jahreszeit.

Ich habe mich verliebt in eine Frau, die ich im Internet kennen gelernt habe und habe sie auch

schon getroffen. Sie heisst Dee Griess, auch bekannt unter dem Namen Fräulein Debby. Sie wohnt in

Fresno. Wir sind etwa in der gleichen Situation. Wir sind religiös, konservativ und einsam.

Sie hat ihr ganzes Leben lang in der Stadt gelebt und zwei Kinder grossgezogen. Ihr Sohn Denver

– vielleicht kennst du ihn sogar? – wohnt in Sacramento. Sie will sich scheiden lassen und ist

bereit nach Chico zu ziehen. Ich hoffe, du wirst sie mögen,

Bevor sie weiter las, dachte sie nochmals über das Verhältnis zu ihrem Vater nach. In ihrer Jugend

hatte sie ihn bis zu ihrer Heirat einmal im Monat gesehen. Sie hatte sich schnell scheiden lassen und

danach nur noch wenig Kontakt. Sie trafen sich nur gelegentlich, schrieben Briefe oder telefonierten.

Es entwickelte sich eine konstante Distanz. Im Grunde kannte sie ihn kaum, war jedoch im Bild über

seinen beruflichen Erfolg. Mehrmals erhielt sie hohe finanzielle Zuwendungen.

Eines Abends, als ich zum Sternenhimmel blickte, dachte ich sehr gründlich über mein Leben nach.

Ich fühlte mich wie Staub im Wind. Ich weiss, dass es mir gut geht, aber etwas hat mir gefehlt. Ich

suchte, habe aber, wie man so sagt, den falschen Baum angebellt. Erst als ich Dee kennen gelernt habe,

begann ich wieder Gefühle zu haben. Nun sehe ich klar: keine Regentage mehr! Ich bin sehr glücklich,

da ich weiss, dass Liebe teilzuhaben bedeutet und ich möchte auch wieder ein Teil Deines Lebens werden.

Wir sollten bald miteinander sprechen.


In Liebe,

Dein Vater.


Sie legte den Brief nieder, schaute durch das geputzte Fenster und überlegte, ob sie ihn anrufen sollte.

Der Gedanke daran, dass er verliebt war, bot ihr Trost, dass so etwas jederzeit möglich war. Sie plante

ihre nächste Reinigungsaktion, während sie geistesabwesend einen jungen Mann erblickte, der kürzlich

da gewesen war um die Reinigung des Schwimmbeckens vorzubereiten. Das Geräusch von Spotting,

der sich gegen die Hintertür stemmte, brachte sie wieder zu vollem Bewusstsein zurück. Zunächst

hatte sie ihren Hund zu füttern und mit Tabletten zu versorgen, bevor sie einen Mann kennen

lernen und lieben konnte.





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