53. regentag im realife

 53. regentag im realife


Martin fuhr schnell durch eine Pfütze und blickte in den Rückspiegel um zu sehen, wie der umherschlendernde

Hippie auf den Wasserschwall reagierte. Er war auf dem Weg zu Candi um sie zu fragen,

ob sie zu der Abschlussgala der Young Millionaires Convention mitgenommen werden wollte. Er hatte

sich schon auf dieses Ereignis gefreut, seitdem Mike Mueller ihm die Rolle angeboten hatte. Der Gedanke

daran, mit fünfhundert Millionären in einem Saal zu sein und an die sich dadurch bietenden

Möglichkeiten erregte ihn. Obwohl er in seiner Kostümierung nicht erkannt werden konnte, würde

die Veranstaltung vorteilhaft für ihn sein, wenn er diese Männer später als Werbefachmann Martin

verkleidet kennen lernen würde.

„Martin, du fährst zu schnell“, spricht der Autocomputer. „Vermindere die Geschwindigkeit.“

Realife hatte ihm ein nagelneues Auto zur Verfügung gestellt, als er dort zu arbeiten begonnen

hatte und er war immer noch von der Fahrqualität begeistert. Er sass wie ein kotendes Schwein in

seinem Saturn Io, dessen Farben sich je nach dem Wetter änderten. Es besass ergonomische Sitze

und bot genügend Platz für fünf Personen. Es hatte einen Acht-Zylinder-Motor und eine auf Ansprache

reagierende Medienanlage. Im Vergleich zu der Situation im Ford Lima sass er hoch und es fiel

ihm weiterhin schwer Entfernungen einzuschätzen, aber dank des Computers beging er keine

Fehler.

„Martin, du bist auf der falschen Spur. Kehre bitte auf die rechte Strassenseite zurück.“

Sein Bruch hatte nicht im Krankenhaus operiert werden müssen und er war froh bei der Arbeit

nicht gefehlt zu haben. Nur schwere Gegenstände würde er nie wieder heben dürfen. Das bedeutete

für ihn, sein ganzes weiteres Arbeitsleben lang von Handarbeit befreit zu sein.

Als er im Krankenhaus war, hatte das Sunbeam-Bügeleisen das Haus im Brand gesetzt. Über dem

Wohnzimmer klaffte jetzt ein Loch im Dach. Er hatte beschlossen in einem Hotel nahe des Realife

unterzukommen, während er darüber nachsann, welche Möglichkeiten er hatte, bis er die neue Beschäftigung

in der neuen Realife-Fabrik in Sacramento antreten würde. Erst als Bianca sich am Telefon

erkundigte, wo ihre Mutter sich aufhalte, wurde Martin klar, dass auch er sie mehrere Tage nicht

gesehen hatte. Schliesslich hinterliess sie auf seinem Mobilphon die Mitteilung, dass sie sich scheiden

lassen wollte. Neues Auto, neue Arbeit, neue Stadt, neues Haus, neues Leben und vielleicht eines

Tages eine neue Frau. Wieder einmal glitt Martin in einen neuen Lebensabschnitt hinüber ohne einen

Plan, aber in der festen Überzeugung belohnt zu werden.

„Martin, schalte den Blinker aus.“

Die neue Beschäftigung bei Realife hatte ihn gezwungen, neue Arbeitsbedingungen zu beachten:

neue Kunden, einen neuen Weg zur Arbeit, die noch unbekannten Kollegen, neue Flowcharts und

Verkaufsquoten, die Chemikalien und ihre Nebenprodukte, Produktionsstandards und Leitlinien,

Tankstellen, Gross-und Einzelhandelsfirmen.

Wo er auch immer war, fühlte er sich gut behandelt und nach der anfänglichen Nervosität im neuen

Arbeitsprozess hatte er seine Nische gefunden. Er wunderte sich noch öfter, dass er nicht schon früher

gewechselt hatte und wie er eigentlich ohne Realife hatte leben können.

Er hatte für die Firma einen neuen Werbeslogan entwickelt, einen ohne das Wort Chemikalien.

Sein Vorschlag ‚Wir verändern Ihre Welt zum Besseren‘ wurde enthusiastisch aufgenommen und

ermöglichte es ihm seine erste Prämie einzusacken.

Die Arbeit verlieh Martin ein Gefühl der Selbstverwirklichung. Zusätzlich zu der Verwendung des

Firmenautos, zu dem Arbeitsplatzwechsel und dreizehn Tagen bezahlten Urlaubs war er stolz einen

goldenen Schüssel für die Benutzung der Managertoilette zu besitzen. Er wusste, dass in der Privatsphäre

der Urinale die Kameradschaft mit seinen Kollegen am ehrlichsten war. Er war mit ihnen


verbunden über die Aspekte Prostatadrüsen, Verdauungssysteme, Darmbewegungen, Hämorrhoidenbehandlung

und Impotenz. Er fühlte sich vollkommen wohl in der Familie Realife.

„Martin, du fährst auf die Olive Avenue zu“, kündigte die angenehme digitalisierte Frauenstimme

an. „Fahr bitte auf die linke Spur und biege dann nach links ab.“

„Sag’ mir nicht, wo ich fahren soll!“ Er fuhr auf die linke Spur. „Ich bin diese Strecke schon …“

„Martin, fahre langsamer und biege nach links in die Olive Avenue ein.“

„O, halt die Klappe!“ Martin folgte der Aufforderung, trat das Gaspedal durch und erreichte die

linke Spur, bevor die Ampel umschaltete. Danach fuhr er etwa zwanzig Minuten ohne Ablenkung

geradeaus und dachte an die zu entwerfende Annonce: Dünger für Wachstum, Unkrautvertilger für

den Tod und Gentomaten für das Leben.

„Martin, du bist kurz vor dem Ziel. Bitte, vermindere die Geschwindigkeit“. unterbrach die

Stimme.

„Candi? Ich kam vorbei …“

„Martin!“, rief sie und drehte sich mit dem Bürostuhl um. „Mensch, Martin, du hast mich

erschreckt, denn du bist wieder ohne was zu sagen an meinen Schreibtisch gekommen.“

„Tut mir leid.“ Er hielt die Hand vor den Mund und hustete. „Ich bin vorbeigekommen um dir bei

diesem Regen eine Mitfahrgelegenheit anzubieten.“

„Wie?“, Als ihr bewusst wurde, was Martin gemeint hatte, antwortete sie; „Sehr nett von dir.“

„In vielen Strassen staut sich der Verkehr. Es gibt eine Umleitung über die West Avenue.“ Er klopfte

auf die orangefarbene Firmenjacke und kramte in seinen Taschen herum. „Ich habe dir Schokolade

mitgebracht.“ Sein linker Ellbogen stiess gegen einen Kunsthornbehälter auf Candis Tisch, so dass

die kleinen Plastikfrüchte auf den Fussboden purzelten.

„Beruhige dich, Martin!“, empfahl Candi, während sie die restlichen Früchte aufzuhalten versuchte.

„Du bist etwas nervös wegen heute Abend, oder?“, fragte sie leicht provokativ.

„Ich glaube schon.“ Er beugte sich, um die Früchte wieder aufzuheben. „Ich habe Whisky und Cola

im Auto. Ich denke, wegen des Regens sollten wir früh losfahren. Hier eine Banane.“ Er legt sie auf

die Theke.

Während der Tagung hatte Candi souverän in der Vermittlungszentrale gearbeitet um übrigen Mitarbeiter

in Realife bei Laune zu halten, während scharenweise Millionäre in ihren blauen oder grauen

Designeranzügen, mit gestärkten weissen Hemden, Firmenkrawatten und teuren Lederschuhen

durch das Foyer strömten. Sie hatte sogar mit einigen ihrer Frauen gesprochen, die ihrer Meinung

nach nichts weiter waren als hirnlose Nutten, die sich der Ehe wegen zum höchstmöglichen Preis an

den nächsten Halbgott verkauft hatten.

Sie meinte, sie wäre eher als diese berechtigt an der Gala teilzunehmen. Letzten Endes verrichtete

sie die meiste zusätzliche Arbeit für Mr. Thorndorn und Mr. Cole. Doch nur durch Martins Freundschaft

mit Mike Mueller konnte sie teilnehmen wenn auch als Darstellerin und nicht als Gast.

„Trittst du zum ersten Mal auf?“

„Eigentlich nicht.“ Martin war recht ruhig geworden und trat von einem Bein auf das andere.

„Nun, möchtest du mir davon berichten?“, fragte sie und begann ihren Arbeitsplatz aufzuräumen.

„Als Jugendlicher stand ich einmal mit Norma Child auf der Bühne.“

„Wer ist sie?“

„Die mit dem erfolgreichen Schlager ‚Butterflies are free at the Zoo!‘“ Martin plauderte über alles,

was er von Norma Child wusste: ihre erfolgreiche Diät, die Zeit, dass ihr Sohn ums Leben kam, als er

versuchte hatte über einen Metallzaun zu steigen und dabei aufgespiesst wurde, ihren ersten Ehrmann,

den französischen Filmstar Kille Lechien, der noch in der Johns-Hopkins-Klinik nach einem

schweren Bootsunfall im Koma lag und ihre erfolgreiche zweite Ehe mit dem ehemaligen Bodybuilder

und späteren Millionär und Kongressabgeordneten Arnold Weissmann.

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Candi hörte Martin nicht sehr aufmerksam zu, stellte aber die Theorie auf, dass die meisten Männer

sich wie Tiere auf dem Bauernhof verhielten, wenn sie sich mit langweiligen Firmenanzügen verkleideten

und Krawatten als Hundeleinen trugen. Sie gehörten vorwiegend zu einer Art Zuchtvieh,

nämlich dem Schwein mit vier Unterrassen: dem fetten Schwein, dem mageren Schwein, dem Miniferkel

und dem Spanferkel. Gelegentlich würde ein Zuchthengst durch den Schweinstall schlendern,

aber es gäbe immer auch einen Haken, denn er wäre nicht nicht zugeritten, würde Reiter abwerfen

oder wäre einfach lahm.

Ihre Beziehung mit Martin begann zu bröckeln. Sie waren schon ein halbes Jahr zusammen, aber

ihr war klar geworden, dass Martin sich nicht geändert hatte. Zunächst hatte er sich als ein kontaktfreudiger

Individualist gezeigt, aber unter der Fassade steckte ein eigensinniger Junge, der gern hinterfotzig

war und immer nur seinen Vorteil im Sinn hatte.

„Martin!“ Sie unterbrach ihn, als er an den Höhepunkt seines ersten und einzigen Konflikts mit

Norma Child, von der er bei dem Monterey Folk Festival ein Autogramm erhalten hatte, erinnerte.

„Martin! In der Cafeteria gibt’s einen grossen Schokoladenkuchen von der Müllabfuhrfirma ‚Acme

Disposal Union‘. Den wirst du wie auch Mr Thorndorn bestimmt mögen. Er sieht witzig aus, denn

er hat die Form eines Müllwagens mit kandierten Früchten als Abfall und ist ein Geschenk für Mr.

Thorndorn und Realife.“

Martin hatte das Auf und Ab von Candis roten Lippen genau beobachtet, als sie den Kuchen honigsüss

beschrieb, so dass er wild entschlossen war ihn zu probieren. Er wollte in die Cafeteria gehen,

wurde aber von ihr zurückgehalten.

„Martin.“ Sie lehnte sich über den Tisch und setzte den Kopfhörer auf, hielt einen Knopf auf dem

Kontrollbrett gedrückt und sagte: „Sag doch etwas!“

„Etwas.“

„Sage einfach ‚Sprechen Sie!‘, wenn das Telefon klingelt. Sie ging um den Tisch herum. „Ich bin

gleich zurück, muss nur kurz mal aufs Klo. Meine Hinterzähne schwimmen schon.“ Candi gab Martin

einen Klaps aufs Gesäss und ging auf die Toilette.

Mit wässerigem Mund durchsuchte er das Foyer nach etwas Essbarem. Der Gedanke an den

Kuchen liess seinen Magen rumoren. Er nahm die Banane und versuchte sie sorgfältig in das Horn

zurückzustecken. Er vernahm ein Klingen im Ohr und blieb verwirrt stehen. Mehrere Augenblickte

lang rieb er bei jedem Anruf an der Wachsbanane. Er hatte einen Schweissausbruch, als er überlegte,

ob er den Hörer aufnehmen oder den Vorraum verlassen und Kuchen essen sollte. Schliessslich antwortete

er beim achten Anruf.

„Mr. Thorndorn.“

„Ja, Mr. Thorndorn“, antwortete Martin

„Im F.C.T. soll um neun Uhr eine Bombe explodieren. Wir haben Sie gewarnt. Vergreifen Sie sich

nicht an dem Landbesitz Ihrer Brüder! Dies ist Ihre letzte Chance. Das ist kein Witz. Schlau und Geld.

Wir sind die Opportunisten.“

Keine weiteren Worte folgten und Martin sprang auf, als Candi ihm auf die Schulter klopfte. „Hat

jemand angerufen?“

„Ja, es gab eine Bombendrohung.“

„Eine Männerstimme? Verzerrt? Schlau und Geld?“

„Ja“, stammelte er, „genau das habe ich gehört.“

„Sei einiger Zeit kommt immer wieder dieser Anruf. Bisher wurde aber keine Bombe gefunden.

Du erinnerst dich an den anderen Anruf. Eine in einem Lunchpaket enthaltene Tomatensaftdose explodierte

in der Mikrowelle.“ Sie ergriff den Kopfhörer. „Das ist Fresno. Wer würde denn in dieser

Stadt etwas in die Luft gehen lassen?“ Sie grinste und lief um den Tisch herum. „Und wenn sie

explodiert, ist es nur recht.“

„Kann ich jetzt etwas Kuchen essen? Möchtest du auch ein Stück?“


„Nein, Martin. Wir müssen sofort die Polizei informieren. Mist!“ Sie stampfte mit einem Fuss auf.

„Warum musste es gerade jetzt passieren?“

„Vielleicht gibt es einen verärgerten Angestellten.“

„Pass auf! Du musst mit der Polizei sprechen, denn du hast den Anruf entgegen genommen“,

sagte Candi und reichte Martin den Hörer.

„Aber ich möchte jetzt nicht mit Ihnen sprechen“, sagte er. „Können wir’s nicht einfach vergessen?“

„Doch Martin, sage genau, was du gehört hast.“ Sie wedelte mit dem Hörer.

„Mach du’s!“ Er ging einen Schritt zurück. „Du hast’s doch

sonst auch gemacht. Sie rufen doch dauernd an.“

Candi hielt den Hörer an ein Ohr und wählte: Weisst du, Martin, du wirst bestimmt nicht der erste

sein, den ich von meinem Totenbett aus um Hilfe anrufe.“ Eingeschnappt vermied sie jeden Augenkontakt

mit ihm.

Martin trat nervös von einem Bein auf den anderen und wartete darauf, von Candis Gegenwart

befreit zu werden – eine nicht alltägliche Situation!

„Hallo! Kann ich mit Sergeant Pisa sprechen? Hier ist wieder Candi Powers in Realife. Ja, hallo.

hallo, Antonio! Gibt’s was Neues von deiner Mutter? Keine Veränderung? Informiere mich weiter!

Sie hörte ihm zu. „Oh, ich freue mich, dass Mona es endlich geschafft hat. Wie heisst das Geschäft? Big

Mama – was? – Müll? Big Mama Fast Trash, oh, Big Mona’s Fast Trash. Damit werden sicher Kunden

angelockt.

„Hier ist alles in Ordnung. Ich rufe an, weil wir wieder eine Bombendrohung erhalten haben. Ja,

ja: schlau und Geld.“ Sie blickte Martin an. „Das hat er gesagt. Es war eine Männerstimme.“

Martin nickte zustimmend.

„Ja, verzerrt. Wo sollte sie abgelegt worden sein?“

In der Fabrik“, flüsterte Martin.

„In welchem Gebäude?“

„In Nr. Neun.“

„Ja. sie sagten das Übliche. „Sie sah Martin zur Bestätigung an.„Wir sind die Opportunisten und

so weiter.

Nickend stimmte er wieder zu.

„Nein, das ist nicht möglich, denn ich habe heute Abend im F.C.T. einen Termin. Ja, ja; die Young

Millionaires Gala. Um vier muss ich dort sein. Gut, in zehn Minuten fahre ich los. Ja, ich teile den

Beschäftigten in Nr. Neun mit, dass sie es verlassen müssen.

„Mist!“, fluchte sie, setzte den Hörer ab und warf ihn auf den Tisch. „Sie wollen vorbeikommen

und einen Bericht schrieben. Du wirst halt mit ihnen sprechen müssen. Sie haben noch eine halbe

Stunde Zeit, sonst sind wir nicht mehr da. „Sie setzte sich und hörte, dass Martin auf ihre Entscheidung

wartete. Plötzlich verdrängte die Aussicht darauf etwas sadistisch sein zu können, ihre Frustration.

Sie rutschte mit ihrem Sitz nach vorn, legte die Ellbogen auf den Tisch und stützte das Kinn

mit den Händen ab. „Martin?“ Sie sprach langsam. „Warum bringst du mir nicht ein Stück Kuchen?“

Martin lächelte und ging.

„Ich werde noch mal Kaffeewasser aufsetzen.“

Martin blieb stehen und schaute zurück

„Ist dies deine Regenjacke?“

Er nickte.

„Weshalb hast du die nicht draussen in der Halle aufgehängt? Sie macht ja das ganze Foyer nass.

Man könnte leicht ausrutschen.“

Martin zuckte mit den Schultern und lief weiter.

„Martin!“

„Was ist?“ Er blieb nochmals stehen.

„Oder besser; hol doch lieber die Getränke aus deinem Wagen. Ich bringe dann den Kuchen.

Martin hielt einen Augenblick inne und kehrte um.

„Oh, Martin?“

Vor dem Hinausgehen schaute drehte er sich noch mal um.

„Wie gross soll dein Stück sein?“






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