54. die jungen millionäre
54. die jungen millionäre
„Warum brauchtest du so lange?“ Mike Müller unterbrach seine Frage in einem Anflug von Verzweiflung.
„Ich glaubte, Marie und Louis starben bei der Überschwemmung. Los, los, ihr beiden!“
Er stiess Candi und Martin zu der Garderobe hin. „Wir haben auf euch gewartet. Oh, Gott sei Dank
tretet ihr erst am Ende auf. Nun setzt euch! Carmen und Troy werden euch durchschnittliche Arbeitsproletarier
in fesche Bonvivants der Jahrhundertwende verwandeln.“ Er rauschte zu Troy hinüber und
verlangte: „Ruf die Mädels in der Kostümkammer an! Sie sollen die Kostüme bringen.“
Es nahm Stunden der Vorbereitung in Anspruch den Empfangschef und den Werbefachmann in
den König und die Königin von Frankreich zu verwandeln. Martin sass nervös und schwitzend wie
ein Schwein vor dem Schlachtfest, als Puder, Eyeliner, Rouge, Lippenstift und Perücke nacheinander
von dem androgynen Kosmetiker und seiner freundlichen Helferin Carmen aufgetragen wurden.
„Carmen, Liebling. Reiche mir den schwarzen Eyeliner! Ich möchte diesen Leberfleck auf seinem
Gesicht hervorheben. Louis, so viele Leberflecke!“ Während er wieder puderte, instruierte er Martin,
wie er in der Öffentlichkeit tuntig und masochistisch auftreten könne.
Sie debütierten am Ende der stundenlangen Varietee-Show mit Schlagern von Bühne und Film, die
von Al Radka moderiert wurden. Norma Child sang ihren klassischen Schlager in einem beschwingten
Tempo, als Louis (Martin) eine riesige Kopie eines Silberdollars auf die Bühne rollte, gefolgt von
Marie Antoinette (Candi), die ihm half ihn ins Zentrum zu platzieren. Sie unterstützten dann Norma,
die über die Requisite gekippt und gefallen war, hinauf auf die Münze. Sie wurde begleitet von Miss
Liberty, Symbol amerikanischer Vorherrschaft sowohl in der Welt der Finanzen als auch der Kultur.
Neil Jung trat überraschend auf und sang sein Standardlied ‚California Roadkill‘. Zum Ende der
Show regten die Künstler die Zuschauer an gemeinsam die amerikanische Nationalhymne anzustimmen.
Im Anschluss an die Show gab es ein Galabuffet in der Eingangshalle des F.C.T. Beide – Louis und
Marie Antoinette – plauderten mit den Reichen und tranken teuren Champagner aus ebenso teuren
flötenförmigen Kristallgläsern, die von dem Warenhaus Godschalks zur Verfügung gestellt worden
waren. Marie spielte die schlaue Kokotte und umgab sich – wenn immer möglich – mit lachenden
Männern und spitzte ihre Lippen für die allgegenwärtigen Fotografen. Louis fühlte sich so souverän,
als ob ihm die Welt gehörte und er sie verschenken könnte.
Louis und Marie trafen einige der wohlhabenden Männer des Staates. Da waren beispielsweise
Bill Lock, der Präsident der Megahard Company, eines der weltgrössten Lieferanten von Quarz-
Computerchips, Danny Mencina, Hauptplaner und Eigentümer von Delta Smelts, Kim Wang, Risikoinvestor
und Mehrheitsaktionär von Cyberseed und Christo Enterprises, der erfolgreichen Kommunikationsfirma,
Kongressabgeordneter Arni Weissmann, der vor kurzem den Geschäftsbereich
seines Betriebs erweitert hatte um die Branche der Atommülllagerung und des Umweltschutzes und
traf damit zwei Vögel mit einem Stein, wortwörtlich, Ben Silverstone, Filmstudiomanager und Pierre
Mondane, dessen Luxusagrargüter-Holding sich erstreckte auf Sacramento Tomato Juice, die weltbekannten Blue Diamond-Mandeln und Sunkiss-Rosinen.
Louis und Marie Antoinette unterbrachen ihr königliches Verhalten, um sich oben am Buffet dem
Genuss hinzugeben. Louis belud seinen kleinen Teller mit R.ucherlachsstücken, während Marie an
kleinen Zwiebackhäppchen mit Gänseleberpastete knabberte. Leider konnte sie keine grossen Mengen
teurer Lebensmittel verzehren wegen ihrer durch ein Korsett beengten Taille.
Es gab schon Essensflecken auf Louis’ cremefarbener Weste und seinem Frack, noch bevor er den
Tisch erreichte. Aus Furcht, dass alles noch schlimmer werden würde, half Marie einer blonden Frau,
die Gefallen an Louis gefunden hatte und ihm dabei half eine übergrosse Papierserviette als Lätzchen
zu befestigen. Als Charakterdarstellerin nahm sich Marie barocke Freiheiten heraus und klopfte Louis
auf den Hintern.
Louis schnellte herum um den Taktlosen zu tadeln. Weil er sich rasend schnell umdrehte, fiel ein
Lachsstück von seinem Teller, das Maries gepudertes Gesicht traf und in ihr Dekolleté rutschte. Marie
kreischte, schüttelte sich und bemühte sich mit ihren in Livreehandschuhen steckenden Händen den
kalten Fisch von ihrem Körper zu entfernen. Durch seine Rolle sinnlich erregt nutzte Martin den Augenblick,
liess sich rasch auf Maries üppigen Busen fallen und begrub sein Gesicht in ihrem Ausschnitt,
um das Stück Fisch einzusaugen: ein moderner Van Meer. Die beiden hielten Hof in der formvollendeten
Manier der Epoche und warfen unter hemmungslosem Gelächter ihre Köpfe zurück. Als
Louis tief einatmete, verlagerte sich das Stück Fisch aus seinem Mund in seine Kehle und er begann
krampfhaft zu schlucken und nach Luft zu schnappen.
Kim Wang von Cyberseed, der Agentur für Menschenklonen, umarmte, als sie Louis’ Not bemerkte,
ihn von hinten und drückte von unten in seinen Bauch nach der Heinrickmethode. Das hatte
zur Folge, dass das Stück urplötzlich aus Louis’ Luftröhre heraussprang und auf dem schwarzen seidenen
Taftrock eines vornehmen Prinzessinnenkleides einer der anwesenden Ehefrauen landete. Die
Frau schrie auf, nachdem der fremde Gegenstand aus Louis’ Speiseröhre entwichen war und dann
unerwartet ihren Schoss traf. Sie entfernte ihn mit Daumen und Zeigefinger ihrer rechten, in einem
schwarzen Handschuh steckenden Hand und schnippte ihn mit einer schnellen Handbewegung fort.
Das ausgestossene Stück flog auf den Marmorfussboden vor der in die untere Wandelhalle führenden
Treppe. Ein Kellner kam mit Champagner auf einem Tablett gerade vorbei und glitt natürlich
auf dem Fischbrocken aus, machte aber vor dem Sturz einen heldenhaften Versuch das Gleichgewicht
wieder zu erlangen. Gäste aus dem unteren Vestibül, die gerade am oberen Ende der Treppe ankamen,
stiessen zufällig mit ihm im letzten Moment seines Balanceaktes zusammen. Dies wiederum
liess alle drei die mit rotem Teppichboden ausgeschlagene Freitreppe in einem Menschenknäuel hinunter
stürzen, so dass Champagner sich überlall hin ergoss und Kristallscherben nach allen Seiten
sprangen. Von hier an erfolgte eine Kette unglaublicher Ereignisse, die zum Tod von über dreissig
Millionären und einem Werbefachmann führte.
Inzwischen ereignete sich hinter der Bühne ein anderer Zwischenfall. Nachdem er etwas Schlaf
genossen hatte, freute sich Denver darüber, einem alten Bekannten zu begegnen, dem er vertrauen
konnte. Er plauderte mit Troy über Meinungen, Geschichten, Informationen, Fakten und Details aus
ihrem Leben, über Privates und Belangloses. Denver war leicht schockiert etwas über den Fehltritt
seines Vaters zu erfahren. Troy hatte dies von Mike Miller gehört.
Am folgenden Tag zur Frühstückszeit schlitterte Freedom wieder einmal mit den Katzen herein.
Als sie ihren letzten Reisebegleiter offen und detailliert beschrieb, kam Denver auf die Idee, dass es
Icky war. Im Lokal „Matches“ waren die vier später am Tag und sassen in gelöster Stimmung nach
zahllosen Tassen Kaffee und plauderten bis zum frühen Morgen.
Danach hatten Freedom und Icky sich nur getrennt um auszutreten. Zwischen ihnen hatte eine
Affäre begonnen, bei der beiden nicht klar war, wohin sie führen würde und wie sie sie einschätzen
sollten. Sie wussten nur, dass sie sich in dem Augenblick sehr wohl fühlten.
Als Troy ihnen seine bevorstehenden Aufgaben beim F.C.T. erläuterte, drückten Denver und Icky
ihren Wunsch aus, die Riesensilberdollarmünze zu bekommen. Troy wurde von Mike erlaubt das
benutzte Requisit zu behalten und die drei hatten verabredet sich am Schauspielereingang nach der
Aufführung zu treffen, um sie ins Theater zu schleusen. Jetzt waren die vier im Gebäude um sich
darauf vorzubereiten die Münze aus der Bühnentür hinauszurollen, aber ohne Kenntnis dessen, was
sich im Foyer abspielte.
„Glaubst du, wir könnten sie auf die Motorhaube stellen?“, fragte Denver. „Das ist toll! Ich sehe
ein riesiges Kunstpotential.“
„Ja, das sehe ich auch so“, sagte Icky und hob die Münze auf, damit Denver ein durchsichtiges
Stück Plastik darunter schieben konnte. „Ich glaube nicht, dass sie in den Kofferraum passt.“ Er stellte
die Münze auf die Seite und hielt sie fest. „Deine Eltern hatten wirklich tolle Sachen. Wann kommen
nach Auskunft deiner Schwester die Lagerleute? Wenn Platz ist, sollten wir bestimmt einiges
bekommen.“
„Ja. Ich möchte unbedingt die Madonnastatue haben. Aber wie ich Bianka kenne, wird sie alles
beanspruchen und bald über Ebay verkaufen.“ Denver blickte um sich. „Wo ist das Band?“ Er stand
auf und ging dorthin, wo er eine Rolle Gaffa-Klebeband erspäht hatte.
„Troy!“, wimmerte Freedom auf ihrem Sitz in der ersten Reihe des Theatersaals. „Hast du etwas
mehr Gras bekommen?“
„Warum? Möchtest Du ’nen Joint rauchen?“, fragte Troy zynisch von der linken Bühnenseite aus.
„Ja, das wär’ schön. Schau! Ich werde ihn drehen.“
Troy erschien wieder auf der Bühne nahm eine verschliessbare Plastiktasche aus seiner Jeansjacke,
die all die Utensilien für ein richtiges Jointdrehen enthielt und warf sie von der Bühne herab Freedom
zu.
„Sei vorsichtig!“, sagte Troy besorgt. „Du kannst drinnen nicht rauchen; du musst warten, bis wir
draussen sind.“
„Ja,“, unterbrach Icky, „und noch nicht einmal du kannst das machen“. Wir sind in Kalifornien,
wo jeder sein eigener Rauchdetektor ist. Heil Peace!“, rief Icky, riss seinen rechten Arm hoch und
schlug die Hacken seiner Tanzschuhe zusammen. Seine Stimme donnerte durch den Saal. „California
über alles!“, verkündete er und liess die Holzmünze los, die auf den Bühnenboden fiel.
Der laute Schlag alarmierte das Sicherheitspersonal, das vor jedem Theatereingang postiert war.
Die Leute waren schon in Alarmbereitschaft wegen der früher bei Realife telefonisch angekündigten
Bombendrohung und waren gereizt wegen der Verwirrung, die durch das Stolpern des Kellners entstanden
war.
Die Geb.udetüren wurden nacheinander aufgerissen und eine Gruppe bewaffneter Männer in
Business-Anzügen marschierte durch jeden Eingang herein. „Alles in Ordnung?“, wollte einer von
ihnen wissen und hielt einen Finger an ein Ohr.
„Hallo! Wer seid ihr Typen?“, fragte Icky streitlustig.
„Ja!“, warf Troy ein und lief zur Mitte des vorderen Bühnenrands. „Alles in Ordnung! Wir haben
gerade eine der Requisite fallen lassen“. Er stiess mit dem Fuss gegen die nahe bei ihm liegende Holzmünze.
„Er hat seinen Fuss verletzt und geschrien.“ Er zeigte auf Icky, der sich umdrehte und in die
Kulissen humpelte.
Die bewaffneten Wächter blickten auf Freedom. Sie lächelte zurück, wobei sie ihre Hände über
den Schoss hielt, um ihr Tun zu verbergen. Sie nickten und kehrten ohne zu lächeln zu den Türen zurück,
aus denen sie eingetreten waren, schauten ein letztes Mal um sich und riefen die Zentrale an,
um den Alarm zu beenden.
„Hab’ ich dir erzählt, was mir meine Mutter zum Geburtstag geschickt hat?“, fragte Freedom, nachdem
die Türen geschlossen worden waren.
Niemand antwortete.
„Du weisst, wie ich meine Mutter genervt habe, als ich ihr erzählte, dass meine Brüder mich im
Stich gelassen hatten. Ich meine, so war meine Situation: Elektra stirbt, mein Ehemann ist ein wahrer
Trottel und das Schärfste ist, dass meine Familie mich einfach fallen lässt. Nur Lisa und Mona
haben mich in Fresno besucht. Jeder war beschäftigt und konnte auf keinen Fall kommen“.
„Los, Denver! Ich helfe dir die Münze einzupacken“, sagte Troy ruhig und gab Denver ein Zeichen.
„Hier bin ich nun und fühle mich hundeelend. Man hat mich einfach verlassen. Was einmal eine
Familie war, existiert nicht mehr.“
Einen Augenblick herrschte Stille, nachdem das Gaffe von der Rolle gerissen worden war.
„Eines Tages, als ich in meinem Haus sass, überw.ltigt von Traurigkeit, vom Fernsehen erschöpft,
surfte ich und stiess auf diese Glühbirne; und das war’s dann. Ich beschloss all meinen Besitz zu veräussern.
Ich entschied mich dafür, meine Sachen zu packen und zu gehen. Ich begann Freunde in
den Vororten zu besuchen und beendete die Rundreise in Baltimore, wo ich das Auto stehen liess,
und plante meine Herkunft zu erforschen.
„In Ordnung“, sagte Troy beim Hochheben. „Lasst uns den Dollar wegrollen!“ Er schaute Freedom
an. „Nimm nicht alles!“ Mische es mit etwas Tabak! Dieses Zeug ist noch illegal, selbst wenn du
endlos beliefert wirst.“
„In Italien“, sagte sie, sehr mit dem Drehen beschäftigt „habe ich jeden Tag meine Traurigkeit ein
wenig bewältigt, und das Land war wirklich genau das Richtige für mich. Ich muss tausend Kerzen angezündet
haben. Ich entwickelte ein wahres Ritual, und in diesem Land steht an jeder Ecke eine Kirche
oder ein Altar. Hört jemand zu?“, fragte sie und klebte durch Benetzung mit der Zunge den Joint
zu. „Ja, wir hören zu“, sagte Troy. „Wo ist Icky? Können wir den Joint rauchen? Sie hielt ihn Zustimmung
heischend hoch.
„Ja, wir sind fertig.“ Troy half Denver die Münze zur Bühnentür zu rollen. „Icky!“, rief er. „Wir
brechen auf. Los, Freedom! Wir rauchen ihn im Auto.“
Freedom stand auf, suchte ihre Sachen zusammen und folgte den beiden zum Ausgang.
„Halt, einen Augenblick!“, sagte Troy zu Denver und stiess die Tür mit einem Fuss auf. „Oh, Mist!“,
rief Denver aus, als die Tür aufsprang.
„Sieh dir das an! Nie im Leben hab’ ich so viel Wasser gesehen. Fucking A… Wie sollen wir hier
nur herausgelangen?“ Beide schauten durch die Tür und sahen einen Wachmann auf sie zukommen.
„Mist! Ich hab’ was vergessen“, sagte Troy und rollte die Münze hinaus. Ich muss mit ihm sprechen
und ihm sagen, dass wir von Mike die Erlaubnis haben.“
„Ich habe die Schlüssel für das Galaxy“, sagte Denver und zeigte auf Ickys Wagen. „Er ist noch auf
der Anhöhe. Versuche weiter, Icky anzurufen!“ Er tippte Freedom auf die Schulter. Ich gehe zum Auto
und fahr’ es rüber, während du mit Bozo, dem Hafenarbeiter, sprichst. Wir können den Joint im Auto
rauchen, und ich glaub’, unter dem Sitz gibt’s einige Flaschen Bier. Wir könnten eine Party veranstalten,
solange wir auf die Ebbe warten.“ Er zog seine Jacke über den Kopf und rannte zum Auto, als
Troy die Münze aus dem Theater rollte und gegen die Wand stellte.
Der Wachmann lief auf Troy zu und begann ihn auszufragen. Dieser beruhigte ihn aber, und nachdem
sie untersucht und überprüft worden waren, wurden Troy und Freedom in Ruhe gelassen.
„Icky!“, rief Freedom ins Gebäude hinein. „Wir brechen auf.“
„Ich komme“, ertönte seine Stimme aus der Ferne. Das Galaxy fuhr vor und Troy beschloss auf
Freedoms Wunsch hin gemeinsam den ersten Joint zu rauchen vor der Befestigung der Holzmünze
auf dem Autodach.
„Steig ein!“ Er stiess Freedom in den Regen hinaus. „Ich muss die Tür zumachen, und sie schliesst
automatisch. „Wo ist Icky?“
„Weiss ich nicht“, sagte sie und rann zum Galaxy, stieg ein und liess die Hintertür offen.
„Icky!,“ rief Troy nochmals.
„Ich komme.“ Icky stürzte aus der Mitte der Bühne hervor, stiess Troy aus dem Weg; schlug die
Bühnentür zu und sprang in das wartende Galaxy. „Denver, steuere auf Warp 34 zu!“, sagte Icky und
entwand sich Freedoms Schoss. „Ich hasse Wachpersonal.“
Troy stieg ein und setzte sich neben Denver. Freedom hatte den Joint schon angezündet und paffte
vor sich hin
Die laute Explosion des Knallkörpers, den Icky in eine Metalltonne gesteckt hatte, trug noch zur Verwirrung
im Foyer bei. Die Hälfte der Wachmannschaft lief in die Richtung des Knalls, die anderen
trieben die Gäste zu den Eingangstüren. Das Trio, das von der Treppe gefallen war, wurde von Marie
getröstet. Louis stand in der Nähe, betupfte seine Stirn mit einem Taschentuch und entschuldigte sich
vielmals.
Kurze Zeit später erfolgte eine weitere Explosion. Eine Espresso-Maschine mit Kalkablagerungen
pfiff, jedes Mal wenn Cappuccino gebrüht wurde. Durch den Sturz der Millionäre abgelenkt, steckte
ein Barkeeper einen falschen Stecker in die Maschine. Es entstand ein gewaltiger Druck, durch den
der im Innern befindliche Wasserboiler aus Kupfer platzte. Scharfe Metallstücke, Porzellan und siedend
heisses Wasser trafen die Umstehenden. Sieben Millionäre und mehrere Ehefrauen wurden
entsetzlich entstellt.
Der gesamte Raum schien plötzlich in Bewegung zu geraten. Über tausend Menschen rannten in
Massenhysterie auf die vorderen Eingangstüren zu. Die Menge drängte mit aller Macht nach. Wegen
der ausbrechenden Panik wurden viele getötet. Mindestens sechs Millionäre starben wegen Genickbruchs,
als sie die mit roten Läufern ausgelegte Treppe hinunter stürzten. Die am Fuss Liegenden
wurden zwangsläufig zu Tode getrampelt.
In Sekundenschnelle waren die ersten Menschen nach den Explosionen aus dem Gebäude geflüchtet
und sahen sich plötzlich fusshoch stehendem Wasser gegenüber, denn eine Überschwemmung
hatte das Stadtzentrum getroffen. Wer zögerte, nasse Füsse zu bekommen, hinderte die übrigen
Gäste daran hinauszugelangen. Unsicherer Halt liess viele die auf die Strasse führenden Betonstufen
hinunter fallen. Stoss folgte auf Stoss und junge Millionäre, denen moralische Massstäbe eh
völlig gleichgültig waren, kämpften rücksichtslos um ihr Leben.
„Ich habe eine Mutter-Geschichte“, sagte Icky und zog an seinem Joint.
„Warte einen Augenblick! Ich bin mit meiner noch nicht fertig.“ Freedom atmete tief durch und
setzte ihre Erzählung fort: „Nun, etwa eine Woche nach meinem Geburtstag empfange ich dieses
riesige Postpaket. Es musste mehr Porto gekostet haben, als der Inhalt wert war. Ich öffne es und finde
fünf einzelne Päckchen darin, jeweils eins von jedem Familienmitglied. Aber sie stammten nicht von
ihnen, sondern von Mutter. Sei hatte nicht einmal versucht dies geheim zu halten. Ich bin sicher, dass
alles bei Jacques C. Penné gekauft worden war und sie die Geschenkeschilder mit den Namen meiner
Geschwister versehen hatte. Ausserdem verfügt meine Mutter über einen schlechten Geschmack.
Sie wusste, dass ich trauerte, besorgte mir trotzdem ein rosafarbenes Sweatshirt. Die anderen
Geschenke waren ebenso unpassend. Ich weinte, weil es zwar sehr lieb gemeint war, aber so völlig
daneben.“
„Warte mal! Sei einen Moment still!“, liess Denver verlauten und schaltete das Radio aus. „Hast du
etwas gehört? Leute scheinen in Not zu sein.“
Sie sassen ruhig da, blickten einander an; nur das Prasseln der Regentropfen auf dem Wagendach
war vernehmbar.
„Oh nein! Was ist los?“ Icky schluckte und drehte ein Fenster herunter.
Freedom öffnete auch eins und lauschte. „Ich höre Menschen schreien.“
„Liebes, es hört sich so an, als ob einige verletzt sind“, stellte Troy fest.
„Ja, oh mein Gott!“ Freedoms Puls beschleunigte sich, sie erkannte untrügliche Laute des Schmerzes
und der Qual. „Da ist was passiert“, rief sie, so dass alle vier spontan aus dem Auto sprangen, um
in die Richtung des Unglücksortes zu rennen.
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