56. louis’ requiem

56. louis’ requiem

akt eins


„Hallo. Denver! Mensch, du hast ja ‚ne ziemlich schlimme Nachricht auf den AB gesprochen. Ich

weiss nicht, ob ich das auch fertig brächte. Die ist ziemlich persönlich. Hier spricht Vella. Das mit

deinem Vater tut mir sehr leid. Ich kann mir vorstellen, wie’s dir zumute ist. Seit mehreren Tagen

versuche ich dich anzurufen, aber du gehst wohl nicht ran. Das kann ich gut verstehen. Vielleicht

kann ich dir helfen. Ich weiss, was es bedeutet einen geliebten Menschen zu verlieren.“

Denver konnte sie heulen und ihre Nase wischen hören.

„Ich habe von Robert erfahren, dass du und Micky im Frühling eine Show veranstalten werden.

Gott, ich kann es nicht glauben, dass Ben so schnell gestorben ist. Ich wusste, dass er krank war. Dass

er aber so sterben musste, zu Tode getrampelt!“

Vella lachte etwas gehemmt. „Was für ein Abgang! Die Künstler der Galerie wurden eingeladen

etwas für eine Erinnerungsschau darzustellen. Nun nach Bennys Tod kann ich bei der Galerie wieder

arbeiten, aber ich habe Robert bei seinem Anruf gesagt, dass ich noch darüber nachdenken müsste.

Aber wir hatten ein angenehmes Gespräch, es hat die Luft gereinigt. Aber alle sterben. Ich fühle mich

einsamer als jemals. Ist dort noch jemand aus dem Bekanntenkreis umgekommen?“

„Ich war letzte Woche nicht auf dem Halloween-Ball. Worum geht es dabei eigentlich? Ein Galaereignis

in Erinnerung an die Tötung von sechs Millionen Menschen durch die Weissen. Sie soll auch

eine Benifizparty für die Künstler Sacramentos sein. Ich meine, was werden sie mit den wenigen eingenommenen

Cents machen? Trophäen für die St. Patrick’s Parade kaufen? Ich möchte daran nicht

teilnehmen. Wird es nicht allmählich Zeit, dass man den Ureinwohnern ein Holocaustdenkmal

errichtet?“

Bevor sie weitersprach, entstand eine Pause. „Ich habe seit einiger Zeit das Haus nicht mehr verlassen.

Eine Zeitlang habe ich geglaubt, die Polizei würde kommen. Wenn’s dunkel wurde, habe ich

Kerzen angezündet. Ich ging den ganzen Tag auf Zehenspitzen, hatte das Radio so leise an, dass ich

ganz nahe herangehen musste. Der ganze Kram, den ich bestellt hatte, hat eine Art Verfolgungswahn

bei mir erzeugt. Ich musste einfach alles zurücksenden. Jetzt geht es mir aber besser.“ Sie nahm einen

Zug aus ihrer Zigarette.

„Ich bat dien Arzt die Zahl der Beruhigungspillen zu vermindern. Das war ziemlich schwierig. Sie

haben mich davon abgehalten, Schlimmes zu begehen wie zum Beispiel Ladendiebstahl. Ich hatte

einfach zu viele eingenommenen. Es ist wie im Alkolholrausch, ausser dass man danach keinen Kater

hat. Also Denver, ruf mich an, wenn du etwas brauchst. Ich vermisse dich. Tschüss, mein Lieber.“

Denver stand am Erkerfenster und starrte auf einen glänzenden Plastikflamingo im Garten des

Nachbarn und hörte nur teilweise auf die Stimme aus dem Apparat. Sein Denken richtete sich augenblicklich

auf die riesigen Mengen von Menschen, die in die grossen Einkaufszentren hinein- und

wieder herausströmten, und nahm teil an dem Konsumentenverzehr von Masttruthähnen, Made-

Rite-Käsebällchen und seltsamen Eggnog-Getränken, die so aussahen und rochen wie Babykot.

„Mensch, Denver, ich kann mit dir mitfühlen. Die Nachricht hat mich sehr betrübt. Miau, miau. Hallo,

miau, miau. Hier ist Nancy und ich muss dir was sagen. Vielleicht hast du Lust auf ein Plauderstündchen

bei Kaffee und Kuchen. Ruf an und ich bringe selbst gebackenen Pow-Pows mit und eine

Flasche Jack. Ich würde dich sehr gern wieder sehen. Miau, miau.“ Der AB klickte.

Die Zeichen des Jahresendekaufrauschs, der ausser Kontrolle geraten war auf den Rädern des

Vaters, des Sohnes und des Heiligen Gespensts überw.ltigten Denver. Es war seelischer, körperlicher

und spiritueller Terror projiziert in einen männlichen Gott, und die Verehrung eines gequälten, am


Kreuz anfgehängten Mannes war das Symbol der Erlösung. Er schüttelte den Kopf, konnte sich schwer

vorstellen, wie dieses Bild Frieden, Liebe und guten Willen bei den Gläubigen hervorbringen konnte.

Denver klinkte sich aus der Feiertagseinkaufsfreudenethik aus. Er glaubte stattdessen an den schönen

Brauch einmal erhaltene kleine Geschenke einzupacken für Verwandte oder Freunde. Er musste

darauf achten, dass er nicht die Zimmerduftkerze oder dass Keramiksparschwein dem ursprünglichen

Besitzer schenkte. Deshalb legte er eine Liste an und überprüfte sie zweimal. Letztlich kam es

ja auf das Geschenk selbst an, da alles auf materielles Niveau abgesackt war.

Er sinnierte über die ironischen Aspekte früherer Feiertage. Er hatte Postboten Kindern erzählen

hören, dass es keinen Weihnachtsmann gebe und dass ihre Briefe nicht zum Nordpol gesandt würden.

Er hatte gesehen, wie ein Weihnachtsmann vor dem Quantity Market eine Messingglocke läutete und

wie jemand mit einer Waffe ihm sein gesamtes Geld abverlangt hatte. Der hatte sich als überraschend

schlau und ebenso gewalttätig erwiesen, den Angreifer in den Schwitzkasten genommen und ihn

Festnehmen lassen.

Das ist euer Friede auf Erden und guter Willen für alle Menschen, dachte Denver. Der Weihnachtsmann

ist tot.

Er trat einige Schritte zurück und fiel in seinen Kommandantensessel. Als sein Herz blutend am

Boden lag, schlug er den Weg des geringsten Widerstands ein. Er fühlte sich verpflichtet seine Traurigkeit

zu zelebrieren, obwohl es ihm schwerfiel etwas Bedeutungsvolles und Besonderes zu tun. Bald

würde er diesen Zustand hoffentlich überwunden haben.

„Das einzig Dauerhafte im Leben ist der Wechsel.“

Denver nahm der Fernbedienung und schaltete das Fernsehen ein.

„Wir heissen Sie bei der Jay Carlton Show wieder willkommen! Unser Sondergast Bob Lock wird

gleich auftreten“, kündigte der fette Fernsehsprecher an.

Das hat mir noch gefehlt: Jay Carlton ist ein Schwachkopf und Bob Luck ist Mitleid erregend, dachte

Denver und schaltete um.

Schon wieder. Verdammt!

Die Medien hatten in den folgenden Wochen den Unfall vielfältig ausgeschlachtet. Der bevorstehende

Krieg, der Tod einer Prinzessen, die Sexaffäre des Präsidenten, von Menschen verursachte

Katastrophen, selbst Überschwemmungen und Erdbeben, all diese Themen waren in der Nachrichten

an die zweite Stelle gerückt. Alle örtlichen Sender hatten ausführliche Berichte verfasst um den

Zuschauern die Ereignisse verstehbar zu machen. Zum ersten Mal seit Kate Burnetts berühmter Filmparodie

auf die Stadt und Bill Sorresons Epos über das Valley stand Fresno wieder im Mittelpunkt des

Interesses.

„Als ich vor dem F. C.T. ankam, konnte ich meinen Augen nicht trauen.“ Freedoms Kopf mit

Sonnenbrille erschien auf dem Bildschirm. „Ich sah Leichen in Pfützen liegen. Hunderte Männer

und Frauen in zerrissener und schmutzbedeckter Abendgarderobe irrten herum und warteten auf

Hilfe. Einfach surreal!“ Die Kamera schwenkte einen Augenblick zurück um zu zeigen, wie Freedom

im Studio einem Reporterin gegenüber sass.

„Ich konnte entferntes Sirenengeheul vernehmen und sah viele Menschen mit blutigen Händen

und Gesichtern, die sich gegenseitig trösteten. Es war entsetzlich, wie seine Kriegsfilmsszene.“ Sie

schüttelte den Kopf und drückte Daumen und Zeigefinger auf ihre Augen um die Tränen zurückzuhalten.

„Ich kann immer noch das Schreien der Eheleute hören, die sich verletzt oder zu Tode erschrocken

wiederfanden. Es war einfach schrecklich.“ Sie hielt eine Hand vor die Kamera, damit ihr

Weinen nicht weiter gefilmt wurde.

Die Reporterin verneigte sich und das Bild eines gebackenen Truthahns, der auf einem Tisch

landete, erschien an ihrer Stelle auf dem Bildschirm. Werbepause.

Denver schaltete zu Jay Carlton zurück. Bob Luck sass in einem sandfarbenen Sessel, salopp

gekleidet und mit weissen Schuhen, als ob er gerade von einem Golfplatz gekommen wäre.


„Onkel Bob“, sprach Denver zum Fernseher, „ich glaubte, die wärst tot. Hat dir denn niemand gesagt,

dass es keine Helden mehr gibt? Wiederverwertung ist überholt. Warum gibst du nicht die Löffel ab

und nimmst all deine alten Kumpel gleich mit dir mit? Und was sollen bloss die blöden weissen Schuhe?“

Denver stellte den Ton ab und sass ruhig da. Die elektrische Flamingofigur draussen warf blinkende

rosarote Schatten in das Wohnzimmer. Er sah die sich auf und ab bewegenden Köpfe von

Carlton und Onkel Bob, dem Liebling aller, wie sie Anachronismen im rosaroten Scheinwerferlicht

zum Besten gaben.

Er wusste, dass man in diesem Jahr der Familie Griess nicht würde danken können. Sie war traumatisiert,

für jedes Familienmitglied war eine besondere Art der Wiedergenesung erforderlich, so

dass kein Familientreffen stattfinden würde. Man würde nicht wie sonst jedes Jahr Onkel Bob die

gleichen banalen Fragen über sein Wohlergehen stellen.

Denvers Gedanken schweiften zu früheren Feiertagen zurück und endeten im Familienstammbaum.

Er erforschte das Konzept des Onkels und kam zum Schluss, dass jeder einen Onkel hatte,

dessen erster Name aus drei Buchstaben bestand. Dieser Onkel war nur durch Heirat verwandt, war

aber immer bei Familientreffen anwesend, lange nachdem der Blutsverwandte schon gestorben war.

Er war der typische Onkel, der Sechserpacks Pap’s-Bier mitbrachte, aber dann Scotch und Soda trank.

Er war der Onkel, der ständig Selleriestangen und in Dressing nach Farmerart getunkte Tortillachips

mampfte, und eine Cocktailserviette in einer Hand hielt um die an seiner überdimensionalen Wange

herunter laufende Sosse abzuwischen.

Denver sass jedes Jahr neben seinem Onkel, der vulgäre, sexistische und politisch unkorrekte

Witze erzählte. Die ganze Zeit schaufelte er etwas in sich hinein und spuckte beim Sprechen Dressingtropfen

aus. Denver war dann damit beschäftigt nickend zuzustimmen und nicht zu vergessen bei

den Pointen zu lachen.

„Ich würde gern einmal in dein Gesicht spucken, Onkel Bob.“ Denver popelte in der Nase und

schnickte einen Popel auf den Bildschirm. „Haha, das ist wirklich komisch. Den sollte ich mir merken.“

Denver lachte falsch und schaltete zu dem NBS-Dokumentarfilm um. „Es war schrecklich, einfach

schrecklich.“ Candis Gesicht erschien. „Erst der Kellner, dann die Explosion im Theater, dann

die Espressomaschine. Es entstand eine Kettenreaktion und die Menschen gerieten in Panik. Alle

stürzten zum Ausgang. Es schien, als ob die Menge sich zur gleichen Zeit bewegte. Eine kollektive

Massendynamik. Schreien. Weinen. Absolutes Chaos.“ Um Candis Erlebnisbericht zu unterstreichen

ersetzten Videoclips von Menschen, die hinausrannten und die Betontreppen des F. C.T. hinunterstürzten,

ihren sprechenden Kopf.

„Es ging so schnell. Dann war alles vorbei. Natürlich waren die Filmteams mit ihren Kameras am

Ort und wollten Interviews machen. Und ich war als Marie Antoinette verkleidet und lief schlammbeschmutzt

herum. Es war unerträglich Freunde zu sehen, die ich lange nicht gesehen hatte, die

Familientragödie, das Sterben, alles an einem Abend.“

„Wurden Sie verletzt?“

„Nein, glücklicherweise nicht. Ich konnte in der Biegung des Treppengeländers Schutz finden.“ Candi

blickte auf und legt ihre rechte Hand auf die Brust. „Sie können sich all das Leid gar nicht vorstellen.“

Denver wusste, dass sein Interview mit der Reporterin bald gesendet würde und schaltete um. Er

wollte nicht mehr dahin zurück. Seine Kehle schnürte sich langsam zu.

„Oh, bitte, nicht noch einen weiteren dämlichen Blondinenwitz!“ Er sah Onkel Bob mitten in seiner

Sitzkomödiantenroutine. Er schwadronierte über Palm Springs, sein bevorstehendes Luck-Classic-

Golfturnier bei L.A., Golfspiele mit dem Gouverneur, dem Mann, der jetzt den Staat in ein liberales

Gefängnis umwandelte. Denver zweifelte nicht daran, dass Onkel Bob mit Schmiergeld seinem alten

Filmkumpanen zum Amt verholfen hatte.

„Dort ist es schön“, sagte Onkel Bob.

„Das sagen alle.“ Denver nickte und stellte wieder den Ton ab.


akt zwei

Nach dem Ende des zweiten Ganges ziehen sich die Männer zurück um sich im Wohnzimmer das

Fussballspiel anzusehen. Unterdessen räumen die Frauen den Tisch ab, waschen ab und stellen Pasteten

und Kuchen in gewohnter Sklavinnenmanier her.

Die alte Religion enthüllt wieder einmal ihr schmutziges Wesen, dachte er. Sie hat ein heidnisches

Fest ausgeschlachtet, dessen Sinn und Zweck einst gewesen war, für den Reichtum von Mutter Erde

zu danken. Ein Fest, das seit dem Beginn des Gemeindelebens gefeiert wurde, ist nun in die Hülle

des Kapitalismus gepfercht worden und mit Fett übergossen und kann nun angeschnitten werden,

und die Onkel Bob bekommen immer die saftigsten Stücke.

Denver schaltete den Ton ab und unterbrach Onkel Bob, als er gerade über seine alten komödiantischen

Auftritte sprach und lachte dabei die ganze Zeit. Als Jay Carlton ihn zu seinen nächsten Plänen

befragte, erwähnte er seine TV-Spezial-Sendung mit den Kolleginnen Jennifer Foreal und Sarah Wahn.

Onkel Bob begann zum wiederholten Mal eine Geschichte zu erzählen darüber. wie er sich über sie

beide lustig machte, indem er sie im gleichen Kleid auftreten liess. Als sie auf die Bühne kamenn,

konnte man sehen, wie überrascht sie waren. Die kontaktfreudige Jennifer begann an Sarahs Kleid

zu ziehen. Zum Vergnügen der brüllenden männlichen Zuschauer beendeten sie fast nackt ihr Duett

über Freundschaft.

„Das ist das Erbärmlichste, was ich gehört habe, „meinte Denver. „Reiche mir die Süsskartoffel,

bitte. Onkel Bob. Aber nein!“, rief Denver aus. „Es gibt heute Abend keine mehr. die Onkel Bob dieses

Landes sind in ihrer eigenen konservierten La-La-Wood-Traumwelt.“

Er brachte Onkel Bobs Geplapper zum Schweigen und stiess einen langen dunklen Ton aus. Er

lehnte sich nach vorn und seufzte. Er war überw.ltigt von den Verlusten, dem seines Vaters, seiner

Geliebten, seiner Arbeit und eines Zahnes, als er in seiner Wohnung sass und am Vorabend eines

Nationalfeiertages allein fernsah.

Er zog seine Knie bis zum Kinn hoch und rollte sich in seinem grossen Sessel kugelartig zusammen.

Es tat ihm wohl die aufgestaute Traurigkeit los werden zu können. Dann setzte er sich wieder

normal hin und atmete tief durch, bis er ganz erleichtert war. Er schaltete andere Sender ein und sang

seine eigene Version des im Fernsehen gespielten Süsskartoffeln-Werbesongs.

„Ja, heute Abend gibt es keine kandierten Süsskartoffeln.“ Er wälzte sich aus dem Sessel. „Verdammter

Mist, Mann!“, sagte er laut, ging ins Badezimmer, schüttelte den Kopf und schnäuzte die

Nase am Ärmel seines Pullovers und dachte nach.

Was für Menschen geniessen es eigentlich von Jennifer Foreal, Sarah Wahn und auch von Moses

Reed unterhalten zu werden? Warum lechzen die Menschen danach Riesenmengen Britnoid,

McDonna oder Michela J. zu konsumieren?

Er schaltete das Licht an, stand vor dem Toilettenbecken, knöpfte den Hosenschlitz seiner Jeans auf

und holte den Penis heraus. In Trance hörte er den Urinschwall und stellte sich Fragen, die ihn nur

noch mehr enttäuschten.

Was ist eigentlich interessant an Massenmedien und dem Beitrag zur Vergrösserung des Vermögens

dieser schon enorm reichen Leute? Warum müssen alle zusammenkommen um eine Sache zu

konsumieren? Wie steht’s eigentlich mit dem Reichtum einheimischer Talente? Weshalb sind die

Leute verrückt danach, Hollywood zu unterstützen und geben sie ihr Geld dafür aus mit Augenbonbons

befriedigt zu werden? Warum ist es für uns kreative Künstler immer so?

Er verengte seinen Sphinkter um die letzten Urintropfen auszudrücken und verspürte einen

Anflug von Selbstmitleid. „Verdammte Scheisse!!“ Dabei trat er gegen das Toilettenbecken.

Warum muss ich den Preis dafür zahlen in dieser Gesellschaft ehrlich und kritisch zu sein, in der

alle anderen den letzten Scheiss auflecken, als ob es ihre letzte Mahlzeit wäre.

Denver schüttelte seinen Penis, steckte ihn in die Jeans zurück und spülte. „Tschüss, Onkel Bob!“


„Denver, Denver!“ Er hörte die Stimme seiner Mutter im Fernsehen.

„Mutter!“

„Denver! Es ist ein Wunder. Gott schütze dich, mein Sohn.“

„Mutter, was machst du hier? Was ist passiert? Mutter! Mutter!“

„Hast du Louis gesehen?“

„„Wen meinst du denn? Louis? Wer ist Louis?“

„Hallo, ich bin Patty Sanchez. Ich bin Ihre Gastgeberin heute Abend mit einer Sondersendung

über die Ereignisse, als viele der jungen Millionäre durch ihr unvernünftiges Handeln umkamen. Ich

bin sehr betroffen. Seit dem Abend hat sich für mich, die ich in der bei der KFBC-Zweiganstalt in

Fresno arbeite, das Leben geändert. Ich leide an Schlaflosigkeit, habe Migräneanfälle und bin aggressiv

geworden. Meine Kosmetologin sagt, dass ich an postdramatischen Störungen leide. Wie viele anderen

auch kämpfe ich noch darum, wie ich mit dem Schrecken umgehen soll.

Ich war dabei, als das Stossen zum Drängen wurde, als ich während meiner Arbeit draussen in

der Kälte stand. Ich erinnere mich an die tragischen Augenblicke und habe für unsere Zuschauer

einige davon zusammengetragen. Werfen Sie mit mir bitte einen persönlichen Blick auf den menschlichen

Aspekt der Katastrophe.“

Denver ging zum Sessel zurück und nahm die Fernbedienung, wollte umschalten, änderte jedoch

seine Absicht und wählte eine Aufzeichnung, einen Dokumentarfilm, den er noch nicht gesehen hatte.

Es waren die Fernsehberichte. Schliesslich glaubte er ja etwas Kreatives zu tun.

Nacheinander erschienen Photos der Opfer, die nicht mehr wussten, wie sie hiessen, mit deren

langsam ausgeblendeten Namen. Zur Untermalung diente ergreifende klassische Musik. Dee hatte

der Presse das von Martin für Realife aufgenommene Photo gegeben. Das Bild von seinem Vater war

landesweit publiziert worden; es war in den ‚Fresno, Sacramento, Stockton und Modesto Bees‘, der

‚Times‘, in ‚Newsweek‘ und ‚Sutters Weekly‘ und den mit ihnen verbundenen Zeitungen abgedruckt

worden, DIGNITIZED??? und ins Ausland gesandt worden und hatte wahrscheinlich den Planeten

öfter umrundet als irgendeine Raumstation. Martin war virtuell der am weitesten gereiste und

bekannteste Werbefachmann der Welt.


akt drei

Denver schaute aus dem Fenster nach Süden und versuchte sich daran zu erinnern, wann er seinen

Vater zum letzten Mal lebend gesehen hatte. Da der bevorstehende Krieg seine Geschichte in den

Schlagzeilen zu ersetzen begann, verblieb ihm nun mehr Zeit für sich selbst und er hatte sich fast mit

dessen Tod abgefunden.

Er hatte angefangen in einer Ecke seines Ateliers einen Altar aufzubauen mit dem Silberdollar der

Gala als Blickfang. An seinen Vater erinnernde Gegenstände wurden gesammelt und davor gelegt.

Die Errichtung des Altars half ihm seinen Kummer zu überwinden und sich zu sammeln.

Bei leicht geöffnetem Fenster lief er dorthin und blieb vor einigen Kartons stehen, die Gegenstände

aus dem Leben seines Vaters enthielten und mit Arbeitskleidung behängt waren. Hinzugefügt waren

verschiedene Arten Donuts, Kaffeetassen, eine Messingglocke und Räucherstäbchen mit Vanilleduft

auf einer grossen, oben auf den Kartons liegenden Messingplatte. Auf beiden Seiten standen Töpfe

mit Geranien, den Lieblingsblumen seines Vaters. Vor den Kartons lagen Nano-Heftklammern, ein

Spielzeugauto und Probepackungen Reinigungsmittel zur Erinnerung an seine Tätigkeit. Am Silberdollar

hingen verschiedene Auszeichnungen, die er in seinem Arbeitsleben erhalten hatte. Den Boden

um den Altar hatte Denver mit gebrannter Orange, der Lieblingsfarbe seines Vaters, bestrichen.

Auf der Madonnastatue zwischen dem Silberdollar und den Kartons liess er eine grosse weisse

Kerze ständig brennen. Madonna war in eine Milchwachsmuschel eingeschlossen. Er nahm eine

Kerze aus dem Päckchen auf dem Fensterbrett, öffnete den Lichtkreis; indem er sie von der ewigen


Flamme auf Madonnas Kopf aus anzündete und ersetzte die Kerze, die abgebrannt war. Dann zündete

er mehrere Räucherstäbchen an der brennenden Madonna an. Als das Haus sich mit Rauch füllte,

rollte er eine Decke aus synthetischer Wolle auf dem Boden aus und setzte sich vor den Altar hin.

Er liess die winzige Messingglocke erklingen und blickte hinauf zur Flamme. Das wiederholte er

und schloss die Augen. Bilder leuchteten in seinem Bewusstesein auf. Er blickte zurück zu dem Chaos,

das nach der Explosion herrschte, sah, wie die Menschen vor dem Theater in alle Richtungen auseinander

stoben und empfand nochmals den Schock, überraschend seine Mutter zu sehen und wie er

sie über die Stufen führte und hinsetzte. Den verzweifelten Ausruf ‚Louis, ich habe Louis verloren‘

wiederholte er viele Male. Sie war hysterisch, liess sich nicht beruhigen und rif immer wieder nach

ihrem Mann und wurde schliesslich von dem grossen, Freedom und Icky bekannten Mann fortgetragen.

Denver kniete vor dem Altar nieder, öffnete eine Flasche Me Me, des Lieblingsparfums seiner Mutter,

und sprühte einige Tropfen in die Wassergläser auf dem Messingtablett. Die offene Flasche stellte

er wieder links neben die Kerze zurück, läutete die Glocke und erinnerte sich daran, wie Icky

platschend durch das Wasser watete, wild erregt aussah und schrie: Der Teufel ist im Himmel. Das

ist Irrsinn. All diese Toten hier! Benny wurde niedergetrampelt“, bevor er weiter rannte um anderen

zu helfen.

Sicherlich war auch der Galerist bei der Flucht umgekommen. Als Denver Bennys Geschäftskarte

anzündete, dachte er, es sei doch merkwürdig, dass ein steinreicher Farmer von Hanford nach Sacramento

zieht, sein Coming-Out hat, eine Galerie eröffnet, der örtliche Hornokünstler wird, der andere

Menschen fördert und am Ende von einer Menge fetter Kühe niedergetrampelt wird. Wenn das nicht

seltsam ist, dann weiss ich nicht, was sonst.

Er zündete die Karte an und liess sie auf dem Messingtablett verbrennen. Es fiel ihm überaus

schwer, Bennys Liebhaber Robert, seine Mutter, seine Schwester und auch noch sich selbst zu trösten.

Er würde nie vergessen, wie er seinen Vater zum letzten Mal gesehen hatte, als er als der französische

König Louis verkleidet auf einer Bahre zum Krankenwagen getragen wurde. Er sammelte einige

Zeitungsausschnitte mit Photos von ihm, die er aus den zahlreichen über das Unglück verfassten

Artikeln gerettet hatte und brachte sie entgegen dem Uhrzeigersinn an der Statue an, bevor er die

Artikel lässig fallen liess. Zum Schluss verstreute er Nanoclips über die übrigen Gegenstände.

Er dachte zurück an die Betontreppe des Theaters mit seiner Mutter und daran, wie seine Freunde

zwischen den Verletzten und unter Schock Stehenden umher rannten um ihre Hilfe anzubieten. Er

blieb bei seiner Mutter, versuchte sie zu beruhigen und dachte darüber nach, wie sie überhaupt zu

der Gala eingeladen worden war und versuchte herauszufinden, was sie mit Louis eigentlich meinte.

Vor allem konzentrierte er sich auf mehrere Bilder mit einer Frau, die völlig deplatziert schien in

einem höfischen Gewand im Stil des 17. Jahrhunderts, das dann zerrissen, nass und blut- und

schmutzverschmiert war. Ihre weiss gepuderte Perücke hing wie ein Vogelnest an einer Seite des Kopfes

herunter und drohte beim nächsten Windzug herab zu fallen. Sie schlenderte lustlos umher, musterte

engelgleich jede Gruppe und bewegte sich langsam auf- und abwogend. Ihr Bild wurde am

folgenden Tag als Titelphoto verwendet.

Seine Erinnerungen schweiften zurück und wieder überkam ihn Traurigkeit. Er richtete sich auf

und atmete tief durch um einen Seufzer zurück zu halten, der seinen Hals zuzuschnüren drohte.

Tränen füllten seine Augen. Seine linke Hand glitt auf die Perlenkette neben sich. Diese ergriff er und

liess die Perlen durch die Finger rinnen, bevor sie auch auf den Altar legte. Eine seine linke Wange

kitzelnde Träne wischte er nicht ab.

Das letzte Bild zeigt, wie Marie Antoinette herab steigt, und seine hysterische Mutter. „Ist alles in

Ordnung oder braucht sie Hilfe?“ Siei blickte seiner Mutter in die Augen und rief: „Dee Griess!“

Denver war erschüttert und blickte Marie streng an, doch schien seine Mutter das Rufen ihres

Namens kaum wahrzunehmen.


„Dee, erkennst du mich?“ Sie ergriff ihre Schulter und schüttelte sie leicht.

Denver sah, dass die in der Nähe stehende Freedom zuschaute und sich an den Hals fasste. Als

sie eine vertraute Stimme hörte, war sie aufmerksam geworden.

„Dee Griess, ist alles in Ordnung? Dee Griess, wissen Sie, wo Sie sind?“

Plötzlich kam ein Zweihundert-Zentner-Mann von irgendwo her. „Debby, Debby, mein Täubchen.“

Er hob sie hoch und stelte sie auf die Beine, „Debby, ich hab’ dich gefunden. Ist alles o. k.?“

„Louis, Louis“, war alles, was sie sagte.

„Candi?“, fragte Freedom, als sie plötzlich am Rande der Gruppe auftauchte.

Denver, Candi alias Marie, Dee alias Debby und William Bush alias Cal Tex drehten sich gleichzeitig

in die Richtung um, aus der die neue Stimme kam. „Candi, Candi Powers?“

Die beiden Frauen blickten sich an.

„Liberta?“

„Freedom!“ Cal Tex wandte sich von Dee ab und und Denver stand rasch auf um seine herabkommende

Mutter aufzufangen.

„Will!“

„Freedom!“ Candi eilte auf Freedom zu um sie zu umarmen. Plötzlich wurde es hell und ein

Kamerateam trat in Aktion. Denver beobachtete, wie sich in die Anspannung Freude mischte.

Schliesslich wich Candi etwas zurück und wischte ihre Tränen von den Wangen.

„Denver!“, rief Icky. Die Kameralichter hatten ihn erspäht, als er hinter einer Ligusterhecke hervor

sprang. „Ich habe den Mann gesehen, der erzählte …“

„Icky, Himmelhund, was machst du denn hier?“

„He, Sie, Sie sind der Mann, der mir in dem Haus Geld gegeben hat.“

„William!“, sagte Freedom, riss sich von Candi los und umarmte ihn. Denver war entsetzt über die

unangenehme Situation und das folgende lange Schweigen. Gesprochen wurde erst wieder, als Will

Dee zu dem eingetroffenen Krankenwagen begleitete.

„Wohin bringt er deine Mutter?“, fragte Icky.

„Ich kenne ihn nicht.“

„Er ist der, wie ich erzählte, im Haus deiner Eltern war.“

„Ich dachte, er heisst vielleicht Louis.“ Denver sah, wie seiner Mutter in den Krankenwagen

geholfen wurde.

„Candi“, rief Mr. Thorndorn und stolperte.

„Mr. Thorndorn, hierher!” Sie blickte auf Freedom.

„Zum Glück leben Sie noch!“ Er ergriff Candis Hand.

„Ralph, du Schurke!“

„Freedom!“ Mr. Thorndorn drehte sich im richtigen Augenblick um, so dass die geballte Kraft ihrer

offenen Hand sein Gesicht traf.

„Dir war es völlig gleichgültig, ob deine Tochter lebte oder starb.“ Sie stiess ihn an, so dass er über

mehrere im Gras liegende Millionäre fiel. „Du gottverdammter Kerl!“, rief sie, sprang auf ihren ehemaligen

Mann und verpasste ihm einen kräftigen Hieb.

Die entstandene lautstarke Schlägerei, deretwegen die vier von der Polizei wegen unabsichtlicher

Tötung in Gewahrsam genommen wurden, würde wahrscheinlich aus der von ihm angefertigten Aufzeichnung

ausgelassen. Er erhob sich vom Boden vor dem Altar, ging zum Fernseher zurück gerade

rechtzeitig um den Werbespot mit dem auf dem Tisch landenden Truthahn zu tilgen. Es blieben ihm

sieben Minuten Zeit um sich etwas zu essen zu holen. Das Telefon läutete; er liess den Anruf aber

aufzeichnen.

„Mensch, Denver! Jammerst du auf dem Anrufbeantworter? Du hörst dich ja an wie eine gebärende

Kuh. Ich komme vorbei, denn wir müssen über die Show sprechen.“





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