58. eureka, ich hab’s gefunden

 58. eureka, ich hab’s gefunden

„Einerseits verstehe ich dich, dann aber auch wieder nicht.“ Denver hörte das Ende der von Vella hinterlassenen Nachricht, als er die Treppe zu seiner Wohnung hinauflief, nachdem er die Post geholt und mit Janet ein weinig geplaudert hatte. Er stellte den Fernseher leiser und drückte kräftig auf die Abspieltaste des A.B.Während er Vellas Worten lauschte, ging er zum Fenster hinüber und beobachtete einen Stadtstreicher mit langen Rastalocken und Pferdezähnen, der mehrere Kleidungsstücke übereinander trug und einen Einkaufwagen vor sich her schob.

„Hallo. Denver, Denver, bist du zu Hause. Hier spricht wieder Vella. Mir geht’s so weit gut. Ich arbeite viel, glaube aber nicht, dass Arbeit ein Grund zu leben ist. Noch immer will ich Frostschutzmittel trinken. Es soll köstlich schmecken, wenn man es mit Orangensaft mischt, obwohl es dann einem davon übel wird. Vielleicht lässt es einen das Gehirn herauskotzen. Jedes Jahr werde ich ärmer.

Denver, ich besitze keine Kreditkarte mehr, fahre kein Auto. Mein Konto ist tief in den roten Zahlen und belastet mich die ganze Zeit. Ich besitze nichts. Du weisst, was das bedeutet? Ich bin eine Unperson. Stundenlang habe ich geflennt und mich absolut lächerlicher Sentimentalität hingegeben. Sie schniefte und schnäuzte sich.

„Ich musste weinen, als ich sah, wie die Haustierpsychologin einen Hund einschläferte, dadurch dass sie ihm die Hände auflegte. Der Tod gab mir den Rest. Kannst du dir das vorstellen? Ich dachte an all meine Katzen und dann an alle, die kürzlich verstorben sind, an deinen Vater und an Benny.

Ich bin froh dich anrufen zu können. Meinen AB höre ich nicht immer ab. Wenn er voll ist, lösche ich einfach alles. Zum Bunny Ball in der SoToDo-Galerie bin ich eingeladen worden. Eine weitere Veranstaltung für wohltätige Zwecke. Die vornehme Art des Bettelns! Was sollen wir machen? Als Kaninchen über den Tanzboden hüpfen? Denver, das ist zu surrealistisch für mich. Grüsse, bitte, Icky, also für mich, Micky! Ich werde ihn ewig so nennen. Sag ihm, dass ich ihn sehr vermisse und gern wieder mal etwas von ihm hören würde und seine Postkartengrüsse sehr schätze.“ Eine längere Pause

vermied sie, da Denvers AB schnell abschaltete.

„Möchtest du einen Strauss toter Blumen für die Eröffnung haben? Ob ich zu deiner Show kommen kann, weiss ich noch nicht. Ich habe einen Psychiatertermin in der Stadt und werde meine Designerbierdeckel

im Frisörsalon ‚Big Art‘ präsentieren, so dass ich noch nicht sagen kann, ob ich Zeit haben

werde. Die Marihuana-Pflanze, die du mir zum Geburtstag geschenkt hast, ist leider eingegangen. Ich bin

ungeschickt, denn alles, was ich berühre, geht ein. Könntest du mir vielleicht bei deinen Nachbarn etwas

Speed besorgen? Über das, was du über Benny gesagt hast, habe ich nachgedacht. Er hätte so nicht sterben

sollen. Oh, Denver, ich will nicht wieder anfangen zu jammern. Irgendwie vermag ich dich zu verstehen,

irgendwie aber auch nicht.“ Sie seufzte tief und schwieg; dann folgten nur noch drei Pieptöne.

Er blickte weiter aus dem Fenster. Nach längerer Zeit erkannte er, dass der Lärm in seinem Tagtraum

von einer Heftmaschine und nicht von einer niesenden Katze herrührte. Er begab sich zur Eingangstür.

Von der Veranda saus beobachtete er, wie sein Vermieter Mr. Black von der Delta Housing

Agency um das Gebäude herumlief. Er trat hinaus und las die Mitteilung, die gerade an der hölzernen

Aussenwand angebracht worden war.


BEKANNTMACHUNG

Das Gebäude wird abgerissen.

Weitere Informationen erhalten Sie bei der

Sacramento Housing Authority

WER DIESE MITTEILUNG ENTFERNT; WIRD STRAFRECHTLICH VERFOLGT


„Ist das nicht blöd?“ Denver riss den Anschlag ab und ging auf Mr. Black zu um ihn zusammenzuschlagen.

Er war von der Agency seit der Zeit terrorisiert worden, als geplant war ein zweistöckiges

Bürohaus auf dem Gelände zu errichten. Leider stand das einhundert Jahre alte Gebäude dem Forschritt

im Wege. Um noch Öl ins Feuer zu giessen riefen die Schweine der Agency dann, wenn die

Miete nach einer Woche noch nicht übersandt worden war, an und drohten kurz und bündig zu kündigen,

falls er sie nicht sofort bezahlen würde! Er sah den Vermieter von Elendsquartieren sich in seinen

grauen Sedan von American Motors mit dem Aufkleber ‚Ich hab’s gefunden!‘ auf der Stossstange hinein

schwingen,

„Ich kann das nicht glauben. Man kann das doch nicht einfach abreissen. Die N Street Commune

ist doch eine öffentliche Einrichtung. Wir haben sehr vielen geholfen. Bei Autopannen waren wir

freundlich, hiessen die Menschen im Grid willkommen, haben sie ins kulturelle Leben integriert.“

Laut sprechend zerriss Denver den Anschlag und liess die Fetzen fallen. „Man kann das doch nicht

machen“, rief er und stiess gegen die letzten, bevor sie vom eisigen Wind fortgeweht worden.

Er sah auf dem Rückweg seine Füsse über den Betonweg schlurfen und sinnierte: Sacramento ist

ein schöner Ort, stinklangweilig, ein Paradies auf Erden für die, die Steuern zahlen und Pistolen

besitzen um ihre Problem zu lösen. Aber das Problem ist Langeweile. Es ist eine Stadt, nahezu eine

Kulturstadt, wo sich fast alles ereignen könnte, aber tatsächlich fast nichts passiert. Es gibt einfach zu

viele Stadtväter, die ihr Bestes zu tun versuchen, um die stagnierende Lebensqualität zu verändern. Ein

Mitglied des Mansonkults, ein weiblicher Serienkiller und ich selbst sind im Grunde die einzigen

Pluspunkte für den Ruf der Stadt.

Auch den anderen Anschlag auf dem Gebäude riss er ab und stieg die Treppe hoch im die Stadtverwaltung

anzurufen.

„Hallo. Hier ist die Bauabteilung der Stadt Sacramento. Das Büro ist zur Zeit nicht besetzt. Bewerbungen

für das Kamelienfest können direkt in Messezentrum erfolgen im folgenden Zeitraum …“

„Denver legte den Hörer auf. Verdammt, ist das Leben nicht schön?“, murmelte er verbittert.

„Wie viel kann ich noch verlieren?“ Er setzte sich auf ein Kissen links neben dem Altar mit

dem Rücken zur Wand und blickte sich in der Wohnung um. Überall verteilt lagen neue und wuchtige

Stücke aus der Ruine seines Elternhauses. Der Altar für seinen Vater beanspruchte nun die

Hälfte des Ateliers. In der gesamten Wohnung roch es nach einem gelöschten Lagerfeuer, nur etwas

gemildert durch Weihrauchduft, eine Kombination, die ihn an Airsick-Frischluft-Deoderant erinnerte.

In den auf die Tragödie folgenden Wochen hatte Denvers Leben einem ausser Kontrolle geratenen

Wurmloch geglichen. Alles war auf den Augenblick fixiert worden, der einen Bruch mit der Vergangenheit

darstellte. Nichts anderes schien mehr wichtig zu sein: Krankheit, Tod, Urlaub, seine bevorstehende

Ausstellung in der Galerie des verstorbenen Benjamin Levy waren nach der Schicksalsnacht

bedeutungslos geworden.

Denver musterte seine letzten Arbeiten, die er alle als sehr gelungen einschätzte und als seinem

A.K.N.E.-Kunststil adäquat erachtete. Er hatte die Gesichter der Talkshow-Moderatoren, die er kennen

gelernt hatte, in die Esstischplatte eingraviert. Er nannte das ‚Wir sind gleich wieder da …‘. Die

Viererbande, wie sie von der Presse bezeichnet wurde, hatte monatelang die gesamte Skala der Shows

präsentiert. Sie hatte alle möglichen nationalen und regionalen Themen behandelt um schliesslich

abzustürzen, weil wieder ein Stück Antarktikeis abgebrochen war und dieses Ereignis alles andere in

den Hintergrund hatte treten lassen.

Für ein anderes Werk hatte er die Reste der Reisewerbeplakate in seinem Elternhaus auf ein grosses

Stück Sperrholz gehängt. Darauf hatte er noch die Spielkarten seiner Mutter als Rahmen drapiert. In

allen vier Reihen waren von Ass bis König verbindende farbige Linien gezogen worden. Danach hatte

er mit Ausnahme der auf den Postern dargestellten Touristenattraktionen alles mit einer gelben

Glasur überzogen. In der Mitte war eine Uhr aufgestellt, die Vogelrufe aussties um die vollen Stunden


anzuzeigen, und zum Abschluss hatte er kleine Flugzeuge in den Hintergrund gemalt. Dafür war die

Bezeichnung ‚Mit dem Flug 911 in den Himmel‘ gewählt worden.

Das dritte Werk wurde ‚Verlorenes Eureka‘ genannt. Es war vorher entstanden und sollte dagegen

protestieren, dass die örtliche Kunstkommission verstorbene Popkünstler aus Chicago oder New York

förderte und nicht gegenwärtige talentierte Künstler aus der Stadt. Offensichtlich hielt sie es für

weniger riskant Werke der Künstler von ausserhalb auszustellen, als sich für die hiesigen Künster

mit eigenem Profil einzusetzen. Um Sacramentos kulturelle Dürftigkeit zu symbolisieren hatte er

leere Kartons gelb angestrichen und auf den Seitenflächen bekannte lokale Idole malerisch dargestellt.

Auf die erste Gruppe der Kartons hatte Denver ursprünglich eine Vielzahl von Bildern des Gründers

John Sutter mit unterschiedlicher Haarlänge gemalt. Der war nackt auf dem schlammigen Sacramento-

Ufer stehend zu sehen mit seinem in einer abstossenden Geste ausgestreckten Glied, als ob er

das gerade eroberte Land mit seinem teuflischen Samen befruchtete. Denen beigesellt hatte er kürzlich

Bilder berühmter örtlicher Fernsehgrössen und sie so angeordnet, dass sie wie Wolken wirkten.

Danach wollte er die Kartons mit Gegenständen aus seinem Leben füllen. Zunächst legte er vor allem

von Menschen geschaffene, auf elektrischen Strom angewiesene Gegenstände in die Sutter-Kartons.

Weiterhin fügte er Bücher über verschiedene Religionen und anderes Material mit Gewaltpotential

hinzu.

Auf eine zweite Gruppe Kartons hatte er Kameliein gemalt, die Stadtblumen, Tomaten, das Stadtgemüse

oder Mandeln, die Stadtnüsse. Er fügte dann den Staatsvogel, die Staatsblume und das Staatsmotto

hinzu, also die Wachtel, die goldgelbe Mohnblume und ‚Eureka‘, ‚Ich hab’s gefunden‘, und

hatte vor noch andere Gegenstände, die einen Bezug zu Heimatstadt oder zum Heimatstaat hatten. In

diese Kartons steckte er gefundenen Objekte, Kleidung, Briefe, Fotokopien aus seinem Tagebuch,

Fotografien und Naturgegenstände wie Steine, getrocknete Blumen und Muschelschalen.

Diese Kartons wurden bemalt mit Bildern des Parlamentsgebäudes, Sacramentos Wahrzeichen,

ausserdem Logos religiöser und von Gemeinde- und Staatinstitionen. Da hinein steckte er völlig wertlose

Gegenstände.

Während Denver sein Werk betrachtete und über seine Botschaft nachsann, wurde ihm klar, dass

er sich auf einen Wechsel vorbereitete. Während des Jahres hatte er mehrfach dem allgemeinen Trend

widerstanden, und schliesslich schienen seine Erlebnisse und deren Verarbeitung ihn in die gewünschte

Richtung zu führen.

Er hörte jemanden die Treppe hochsteigen und schloss aus dem Fussstapfengeräusch, dass es wohl

Icky sein müsste. Der kam ‚Heil Peace!‘ rufend herein.

Denver stand auf und erwiderte den Gruss auch mit ‚Heil Peace! und sie klopften sich affektiert auf

die Wangen.

„Ich wurde verhaftet!“

„Mensch, hör auf! Kein Scheiss? Was? Du hast einen Kracher gezündet?“

„Ich darf nie mehr mit Knallkörpern spielen.“ Icky streckte seine Arme in die Höhe. „Nein, ich

wurde festgenommen wegen etwas ganz Blödem.“

„Was ist passiert?“

„Nichts ist passiert, alles ist passiert. Mein Karma ist heimgesucht worden. Meine Aura ist von

ihren hässlichen Händen angesengt worden.“

„Willst du ein Bad nehmen, die Braunfärbung abwaschen? Ich habe sicher das dafür geeignete

Duftöl, oder du könntest die Mundwasserprobe nehmen, die ich kürzlich in der Post fand.“

„Keine schlechte Idee. Unglaublich, was sie mir angetan haben, und ich hab’ doch gar nichts

gemacht. Ich lebe einfach nur, aber irgendwie bin ich ein hoffnungsloser Verbrecher.“

„Ruhig Blut! Möchtest du einen Grog? Ich wollte gerade einen Joint drehen.“

„Ich würde gern am Lagerfeuer sitzen.“ Icky ging zum Gaskamin. „Es ist draussen kälter als eine

Hexentitte in einem Messingbüstenhalter!“, meinte er und schälte sich dann aus seiner schweren


Tweedjacke, die er auf die Couch warf. „Deine Wohnung ist ja leer. Du wirst deinen Plan also

verwirklichen?“

Denver kam zurück und reichte Icky eine Zigarette.

„Gratuliere, du hast meine Gedanken erraten.“

„Ich vielleicht auch; es wird Zeit umzuziehen.“

Icky entzündete die Zigarette an der Gaszeitung. „Entschuldige, aber es riecht hier sehr eigenartig,

ziemlich unangenehm.“

„Das solltest du gerade sagen, du aber auch!“ Denver liess sich auf einer Armlehne des riesigen

Kommandantensessels nieder. „Es muss an deiner Aura liegen. Es riecht nach Verwesung. Soll ich

jetzt Wasser einlassen? Wenn du willst, kannst du hier auf der Couch schlafen.“ Er ging ins Badezimmer.

„Der schlechte Geruch stammt nicht von mir“, rief er das Plätschern des Wassers übert.nend.

„Er stammt von der Farbe, den angekohlten Resten und dem Weihrauch, den ich verbrenne,

du Spinner.“ Er kam ins Wohnzimmer zurück. „Myrre.“

„Knurre mich nicht an! He, wo sind denn die Katzen?“ Icky klopfte sich auf die Oberschenkel um

sie anzulocken. „Kommt her, Kätzchen, Kätzchen, Kätzchen!“

„Sie liegen auf dem Sofa. Du musst nur deine Jacke hinwerfen.“

Icky setzte sich neben Paris und Berlin und fing an sie zu streicheln. „Denver, ich hab’ dir was

mitgebracht“, sagte er und griff dabei in eine Jackentasche. „Du wirst dich freuen, denn ich habe ein

neues Art-Angles-Flugblatt. Soll ich’s dir vorlesen?“

„Zuerst die schlechte Neuigkeit. Wie kam es zu der Festnahme?“

„Ich habe eine Zigarette geraucht.“

„Was? Nicht schon wieder im Burger Queen?“

„Nein, im Parlamentspark.“

„Was? Draussen im Park?“

„Ja, aber der ist Staatseigentum. Ich bin nur durchgelaufen um abzukürzen und hielt eine brennende

Zigarette in der Hand.“

„Aber haben denn die Polizisten dich nicht erstmal aufgefordert sie auszumachen?“

„Ja, aber ich bin gleich weggerannt, denn du weisst doch: Zigaretten sind teuer.“







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