59. resolution nr. 9
59. resolution nr. 9
„Brüder und Schwestern! Wir brauchen dieses perverse Kunstkram nicht!“ Prediger Dans Stimme
schepperte aus den Lautsprechern über die Stufen des Regierungsgebäudes, als die Auserwählten
aufgehört hatten, die Menge zum Applaus mitzureissen mit einer zündenden Darbietung von „Ich
trauere ewig, oh, Herr!“
„Einst gesunde Menschen befinden sich jetzt in einem Rausch hoher Kunst! Kinder, ich sage:
Kinder, die ihr den dreckigen Genitalien der allgegenwärtigen Perversität ausgesetzt seid! Ich sage
euch: Bereut! Werdet rein und fahrt hinauf zum Himmel in Gottes Waschmaschine!“
„Es steht geschrieben, Brüder und Schwestern: ‚Werdet rein! Werdet rein!‘ Gottes Raumschiff Erde
ist besudelt worden. Jesus, der Zimmermann, der durch seine Anhänger zum Opportunisten erklärt
wurde, sagte, dass wir selbstlos leben sollten. Brüder und Schwestern! Lasst mich euch fragen: Seid
ihr nichts anderes als Staub im Wind und bereit, euch an eine pervertierte Oberfläche zu klammern,
mit der ihr in Kontakt kommt? Das muss aufhören. Es ist Zeit, für Jesus rein zu werden!“
„Ich habe euch herbeigerufen, um mir zu helfen den Schmutz und Schund zu beseitigen, der in
dieser Zeit in Galerien und Museen ausgestellt wird; und auch heute wieder wird in unserer schönen
Stadt Schund präsentiert und zu hohen Preisen verkauft. Die so genannte Kulturelite, die ihn erwirbt,
erkennt nicht, dass sie einfach nur Müll kauft. Nun könnte ich meinen Abfalleimer in eine Galerie
stellen und ihn als Kunstwerk deklarieren. Aber das werde ich nicht tun, weil ich weiss, was Müll ist.
Es wird Zeit, ihnen zu sagen, wohin Müll gehört.“
Prediger Dan drehte sich schwankend um, zeigte auf die Menge und rief: „Gebt Acht! Gebt Acht
und sät den Samen aus! Dieses perverse Kunstzeug brauchen wir nicht.“ Er wiederholte seinen
Mantraspruch, während die Auserwählten sich hinter ihm aufstellten, um mit ihm zu singen unter
Begleitung eines Tamborins. Psalmodierend stiegen Dan und die Auserwählten die Stufen des
Regierungsgebäudes hinab zu dem Kirchenmobil, einem Winabego-Wohnwagen, der für kirchliche
Zwecke umgebaut worden war. Sie stiegen hinein und der Wagen fuhr langsam an, gefolgt von einer
ausgewählten Anhängerschar, auf dem Weg zu ihrem Kreuzzug gegen Schund und Schmutz.
Denver, Icky und Freedom rauchten einen Joint im Galaxy, das vor der Benjamin-Levy-Galerie während
der Dauer der Ausstellung geparkt bleiben sollte. Es sollte eine Interaktivinstallation darstellen
als Hinweis auf die verbindenden Elemente von Kunst und Haushalt, Galerie und Strasse. Icky schuf
eine Installation im Fond des Wagens, wobei er befleckte amerikanische Flaggen und Fotoroids von
Arschlöchern verwendete.
Denver und Icky wussten beide, dass der Ort an diesem Abend rappelvoll sein würde. Das müde
Kunstvolk einschliesslich einiger verblüffter Geschäftsleute und die herbeigeeilten lokalen Künstler
würden anwesend sein. Die Gespräche würden nichts sagend und oberflächlich werden. Die banalen
Cocktaildiskussionen würden sich um die Wiederkehr des Postmodernismus, den Aufstieg des Virtualismus
oder den permanenten Verfall autistischer Sensibilität drehen. Die meisten Anwesenden
würden der Auffassung zustimmen, dass der Verfall ein ernstes Problem darstellte, aber beharrlich
leugnen, dass sie selbst irgendetwas damit zu tun hätten. Offensichtlich würden sie bei einer Vernissage
genügend Feingefühl aufbringen, um jeglichen Zweifel an ihrem Kunstverständnis zu zerstreuen.
„Hallo Jungs! Miau, miau.“
„Hallo! Euch auch miau, miau.“
Nancy beugte sich zu Icky hinunter, um sie mit Küsschen auf beide Wangen zu begrüssen, lehnte
sich dann tiefer ins Galaxy hinein um bei Denver das gleiche zu tun und stellte sich Freedom vor. Sie
beugte sich weit heraus und schnurrte: „Die Stadt spricht über euch beide. Heute Abend sollte ein
wirklich grossartiges Giga-Ereignis stattfinden. Jeder wird dabei sein.“ Sie klopfte Icky auf die Schulter.
„Laut Einladungstext habt ihr im vergangenen Jahr im Galaxy gelebt.“
„Ja, dies könnte die letzte Fahrt für das Galaxy gewesen sein. Es ist jetzt ein Kunstwerk oder eine
Lebensart, je nach dem Standpunkt. Mein Galaxy-Leben in Sacto wird im hinteren Teil der Galerie
dokumentiert.“
„Hallo, Denver! Ich hab’ gehört, dass du umziehst. Miau, ein trauriger Tag!“
„Ja.“ Er streckte seine Unterlippe vor. „Es ist Zeit für einen Wechsel.“
„Was wirst du machen, Icky?“
„Weiss ich nicht. Ich sitze hier sozusagen fest. Jedenfalls geht’s dem Auto so. Ich könnte einige
Fahrten unternehmen.“ Er drehte sich um und lächelte Freedom zu. „Wer weiss?“
„Ich bin früh gekommen, um mir all die Angebote anzuschauen. Verkaufst du den Kommandosessel
auch? Wie viel soll er kosten?“
„Alles ist ausgepreist. Aber die Beträge sind Verhandlungssache, je nach deiner Zahlungsfähigkeit.
Astro Bob und seine Leute nehmen Angebote entgegen. Ich entscheide dann, wer was erhält und
für wie viel.“
„Oh, das ist gemein. Miau.“
„Nein, nur gerechter Handel.“
„Wie geht’s deiner lieben Mama?“
„Lustig, dass du so denkst.“ Er stieg aus und lief vor den Wagen.
„Mensch, Denver! Das ist eine Menge Gelb, von Kopf bis Fuss.“
„Danke.“ Er stellte sich einen Augenblick in Positur, um Nancy einen guten Blick zu ermöglichen.
„Fabelhaft.“
Er lief hinüber zu Nancy und beide lehnten sich dann an das polierte Äussere des Galaxy an. „Hört
mal! Alles änderte sich sehr schnell für sie nach dem Tod meines Vaters. Ich vermute, dass sie ihre
Flucht schon vor geraumer Zeit geplant hatte. Sie zog nach Chico. Stell dir vor! Mama, alias Fräulein
Debby, ging mit diesem Typ, den sie aus dem Internet kannte. Er nahm sie mit zu der ‚Gala der Jungen
Millionäre‘.“
„Nicht zu glauben! Intrigen ohne Ende.“
„Und hör dir dies an!“ Er kannte ihre Gier nach dem neuesten Gesellschaftsklatsch. „Dieser Typ traf
zufällig ihren Ex-Ehemann bei der Gala.“ Er hielt inne und blickte rasch zu Icky und Freedom ins
Auto. „Ach, vergiss es. Es ist zu kompliziert. Ich erklär’s dir später. Jedenfalls fuhr Freedom von Fresno
aus mit einigen unserer Freunde, um Icky überraschend zu besuchen. Er ist so glücklich wie eine
Katze im Sack. Es ist komisch, wie wir alle irgendwie miteinander verbunden sind.“
„Denver, du weisst: Manchmal ist diese Stadt besser als Peyton Place. Ich dachte nicht, dass das
Leben im California Valley so aufregend sein könnte.“
„Wenigstens für meine Mama. Sie ist der einzige Mensch, der am Ende Glück gehabt hat. Komisch,
was? Sie ist jedoch ausgeflippt, als ich ihr sagte, dass ich mit all meinen Sachen in die Galerie umziehen
und sie dann verkaufen würde. Das meiste gehört mir sowieso schon, lauter Gerümpel, das
sie mir schenkte, als sie das Neueste in der Shopping Mall erstand.“
„Nun, du siehst selbst auch sehr souverän aus.“
„Danke. Auch du hast einen schönen Pelz.“
„Miau, miau, Denver.“ Sie posierte einen Augenblick. „Den Mantel erhielt ich von Linda. Er ist aus
gefärbtem Ziegenfell.“
„Wer Margaret.“ Er lächelte. „Hübsch Mantel.“
„Du wirst also das Benny’s besetzen?“
„Klar, noch sechs Wochen, und ich bin hier raus.“
„Oh, trüber Tag. Wohin soll’s gehen?“
„Ich denke: nach Frankreich.“
„Frankreich ? Das ist weit weg. Kann man einige deiner T-Shirts kaufen?“
„Ja. Unter meinen restlichen Klamotten sind mehrere dabei. Warum?“
„Man weiss nie. Ich könnte irgendwann eins gebrauchen zur inneren Stärkung.“ Sie entnahm
ihrer fusslangen Cocktail-Handtasche eine Zigarette. „Was wird dann aus deiner Wohnung?“ Sie zündete
sie mit ihrem Dic an.
„Das Haus wird abgerissen.“
„Was, doch nicht etwa dieses alte viktorianische Juwel?“
„He, Leute!“, grummelte Steve, als er plötzlich auf einem Fahrrad angerollt kam. „Icky, ist’s in Ordnung,
wenn ich mein Cosmo am Galaxy abschliesse?“
„Hallo, Art Shit. “Icky streckte seine Hände zur Begrüssung aus.“
„Ich dachte, du wärst der Art Shit.“
Sie führten ihr männliches Freundschaftsritual aus.
„Ich war’s, bevor ich zum Art Fuck wurde. Art Shit passt besser zu dir.“
„Nein, ich bin der Art Loch.“
„Ihr Kerle!“, miaute Nancy. „Worum geht’s?“
„Hast du nicht diese Art-Angles-Anzeigen überall in der Stadt gesehen?“ Denver lehnte sich zu
Nancy hinüber, um ihr das zu erklären.
„Und wer bist du, Denver?“
„Ich war der Art Märtyrer, bis mich die Art Angles ins Paradies verbannte. Nun bin ich der Art
Marks.“
„Also das bist du jetzt“, warf der Art Fuck ein und liess die Fahrradschlüssel in seine Hosentasche
gleiten.
„Ich kann mir vorstellen, wer es sein könnte“, erklärte Icky.
„Wer?“ Alle vier reagierten gleichzeitig und schauten Icky an, der auf dem Fahrersitz sass.
„Ich glaub’, es ist dein Nachbar Denver.“
„Janet?“ Denver schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Die Speed Queen ist nicht auf so etwas
Politisches erpicht. Sie ist eher eine Art Trollin, die sich im Garten abmüht, als eine Art Engelin.“
„Keiner weiss, wer’s macht?“, wollte Nancy wissen.
„Noch hat’s keiner zugegeben“, fügte Steve hinzu.
„Was es noch geheimnisvoller werden lässt. Ich möchte gern wissen, weshalb sie das macht.“
„Oder er“, schlug Denver vor.
„Oder er“, wiederholte Icky. „Aber ich glaub’s nicht. Wie heisst Nancy?“
„Ja, wer soll ich sein?“
„Schau’n wir mal.“
„Die Art …“
„Kitty!“
„Miau, miau. Gefällt mir, und wer ist Freedom?“
„Oh.“ Icky lächelte und massierte Freedoms Schulter. „Wir haben lange versucht, das zu erfahren
und uns auf Art Anomalie verständigt. Ich glaub’, das passt am besten zu ihr.“
Einige örtliche Honoratioren trafen ein, sodass Denver beschloss sich zu entfernen. „Das Galaxy
sieht phantastisch aus, Kumpel.“ Er schnippte seine Zigarette auf die Strasse und klopfte auf das Autoverdeck.
„Ich werde dann euch alle drinnen sehen.“ Er ging fort und betrat den Galerieraum.
Mit einem Glas Wein vom Buffettisch in der Hand betrachtete er sein Meisterwerk ein letztes Mal,
bevor es durch die heranstürmenden Kunstschnäppchenjäger in viele Teile zerlegt wurde.
Denver hatte seine Wohnung als Installation neu geschaffen mit dem Altar als Kernstück. Sein
Rechner stand zwischen dem Silberdollar und der nun völlig von Wachs bedeckten Madonnenstatue
und war durch eine Glühbirne mit der Website verbunden. Der verstärkte Ton unter hoher Elektrizitätsspannung
summte im Hintergrund. Auf jeder Seite stand ein anderer Monitor und beide boten
eine Dokumentation über die Tragödie am FC.T., die er erstellt hatte. Auf dem Boden vor dem Altar
befand sich der aus Holz geschnitzte Esszimmertisch. Die gelben Kästen auf niedrigen Paletten boten
ihren Inhalt den Schnäppchenjägern feil und standen auf beiden Seiten des Wegs zum Altar aufgereiht.
An der Wand gegenüber hing die Widmung für Dee.
Im übrigen Raum lagen die Kunstgegenstände aus seiner Wohnung verstreut, die er hatte beziehen,
pudern, färben, lackieren oder gelb anzumalen können. Er war geneigt, falls nötig, die Herkunft
jedes Objektes anzugeben, um seine persönliche Bindung daran zu erklären und dem erworbenen
Objekt Bedeutung zu verleihen.
Denver hatte auch abendliche Kunstveranstaltungen geplant und seine Freunde zur gemeinsamen
Leitung eines Kunstsalons eingeladen. Mit ihrer Hilfe sollten ein Frisierereignis und eine Save-
Sex-Party nur für Männer stattfinden, Poesieabende, virtuelle und interaktive Kunstchats, Psychoexpansionskurse
und Musikwochenenden mit den Gruppen Slugs, Screaming Pygmies, Mosquitoes
und vielleicht sogar den Geniuses, falls diese in ihrem Zeitplan noch Platz finden würden.
Heute Abend würde billiger Weisswein statt Rotwein fliessen, um Flecken auf dem grauen,
industriell gefertigten Teppichboden zu vermeiden. Die Menschen würden höflich auf ihn zugehen,
ihn mit seinem Nachnamen ansprechen, über intime Kenntnisse seines Lebens verfügen und lächeln.
Er würde ungefähr ihre Gesichter zuzuordnen wissen und nach Hinweisen auf ihre Identität suchen
je nach der Art und Weise, wie sie ihn anredeten. Meist würde er einen Freund bitten, ihm behilflich
zu sein.
Die Haare, die gefärbten Pierre-Darwin-Tanzschuhe, der gelbe Smoking, den er in Big-Mona’s-
Fast-Trash-Laden erstanden hatte, würden grell leuchten im Kontrast zu den schwarz gekleideten,
plappernden Kunstförderern, die sich zusammengeschlossen hatten, um den Niedergang der Kunst
zu betrauern.
Eine perfekte neo-erroristische Vorzeigeaktion, wenn sie nur wüssten, dachte er. „Mr. Griess, erinnern
Sie sich noch an mich? Natürlich wusste Denver noch, wer die vor ihm stehende Frau mit ihren
ausgestreckten Krallen war. Es war nicht leicht, sich in einer kleinen Stadt wie Sacramento nicht mehr
an ein Gesicht zu erinnern. Was schwieriger war, waren die Namen. Ihm fiel aber noch der überlange
Bindestrichname auf der Visitenkarte ein, die sie ihm gegeben hatte, als er sich ein Antragsformular
für ein Stipendium der Sacramento Metropolitan Arts Commission, SMAC, genommen hatte.
„Gelungene Arbeit.“ Sie nickte und betrachtete die Installation. „Wir haben gehört, dass Sie uns
verlassen.“
„Ja.“ Er war überrascht, dass ihr diese Einzelheitl noch gegenwärtig war. „Die Neuigkeit hat schnell
die Runde gemacht.“ Er nahm einen Schluck Wein. „Ich bin Minimalist geworden. Das Motto heisst:
So wenig wie möglich. Ich habe die Fronttür meines Lebens weit geöffnet.“ Er wedelte mit seinem
freien Arm vor sich herum. „Ich bin öffentlich geworden. Ich habe meinem lockeren Leben ein Ende
bereitet. Etwas Aufregendes wird sich ereignen; und was auch immer es sein mag, es wird neu sein
und folglich anders.“
„Anstatt müde, matt und langweilig zu sein.“ Die Art Kitty schlich sich an seine Seite. „Hallo, Linda
Czchevitz-Mencina!“, schnurrte sie mit ausgestreckter Pfote.
„Du sagtest es. He, Kitty, filmt jetzt der Art Fuck mit seiner Kamera?“
„Hallo, Miss Feldman!“ Sie blickte etwas verblüfft wegen Denvers Umzugs. „Zu blöd! Sacramento
verliert einen Künstler. Ich hoffe, du kommst wieder zurück.“ Sie schüttelte Nancy und Denver die
Hand, ging auf Astro Bob zu und imitierte ihr Gehabe.
„Art Bitch“, flüsterte Denver kaum hörbar. „Wenn ihre verdammte Organisation hiesige Talente
unterstützen würde, anstatt sie durch nutzlose Bürokratie zu behindern, wäre ich vielleicht geblieben.“
„Ein Schuss Wodka gefällig?“ Die Art Kitty zog einen Flachmann aus ihrer pelzbesetzten Handtasche
hervor. „Auf deine Ausstellung!“ Sie nahm einen Schluck. „Da Ja, loobloo Wodka.“. Ja, loobloo
Wodka.“ Art Kitty spitzte ihre Lippen und reichte Denver das Fläschchen.
„Kannst du mir beibringen, was ‚Iss mein Würstchen!‘ auf Russisch heisst?“ Er nahm einen
Schluck.
„Na, so was, Art Fag! Mein Russisch ist dafür nicht gut genug. Sieh mal, wer da kommt!“ Die Art
Kitty streckte eine Pfote aus. „Es ist Margaret Kuckel, wahrscheinlich sturzbetrunken, und wir werden
in die Enge getrieben.“ Sie griff sich das Fläschchen von Denver, drehte den Verschluss zu und verbarg
es in ihrer Handtasche.
„Schnell! Wer ist sie?“
Nancy dachte kurz nach: „Art Gringo.“
„Art Gringo?“ Er schüttelte den Kopf. „Das ist verrückt.“
„Ich weiss nicht.“ Sie riet weiter: „Art Drunk?“
„Nein, Art Lush.“
„Perfekt. Miau,miau.“
Beide lachten.
„„Hallo, Denver! Hallo, Nancy!“ Margaret torkelte und legte ihre Hand auf die Mauer und blockierte
damit eine mögliche Flucht. „Wisst ihr, was ich an euch beiden mag?“ Sie wartete nicht bis zu
eine Antwort. „Ich kann wirklich mit euch beiden reden.“ Sie spitzte die Lippen und starrte Denver verdutzt
an. „Übrigens, Denver.“ Sie klopfte ihm auf die Brust.„Eine tolle Installation. Eure Wohnung
hat mir schon immer gefallen. Alles gefunden oder geschenkt bekommen. Ich weiss, was das heisst.
Meine Eltern laden dauernd ihren Krempel in meinem Haus ab, all das gelbe Zeug. Ich dachte nicht,
es sei dein Ernst, als du Gelb zu deinem Geschäftslogo wähltest. Ich hätte gern den Toaster. Funktioniert
er noch? Robert ist voll drauf in seiner rauschenden Jungfrau-Stimmung. Wusstest du eigentlich,
dass er zweimal Jungfrau ist? Dir war immer klar, wer wirklich auf dem Ledersitz im Galaxy gesetzen
hat …“ Sie erlitt einen Schluckauf. „Ich meine das Galeriebüro. Sieh mal, wie er ackert!“
Sie blickten alle zu Robert hinüber, der die Party managte.
„Geh’, Astro Bob, geh’!“ Denver sah Margaret an. „Wir unterhalten uns auch gern mit dir.“
„Oh, Gott! Das erinnert mich an etwas. Hab’ ich dir je davon erzählt, dass ich Bauchtänzerin war?“
Denver and Nancy nickten, und Margaret fuhr fort. „Oh, ja. Es stimmt – und eine wirklich gute. Ich
war spindeldürr. Wisst ihr, dass ich im letzten Winter in Oaxaca war?“
Niemand in Sacramento wusste das nicht. Es war monatelang Gesprächsstoff gewesen.
„Ich denke: ja. Du warst in …“, versuchte Denver zu antworten.
„Also, es war grossartig. Ich verbrachte einen Monat in einer Höhle, sang mir das Gehirn aus dem
Kopf und synchronisierte meine Alpha-und Beta-Gehirnströme. Sie hielt ihre Fingerspitzen an ihre
Schläfen.„Natürlich musste ich ordentlich dafür bezahlen; aber es wirkte bei mir Wunder. Das erste,
was ich nach dem Verlassen der Höhle machte, war einen Baum zu umarmen. Könnt ihr euch das
vorstellen? Ich umarmte den Baum, wie mir schien, tagelang und habe mich in sein vergangenes
Leben hinein versetzt. Er war einst eine Palme im Alten Ägypten und ein Maulbeerbaum in einem
Hof in Frankreich. Mein geistlicher Führer Jesús war zu Tränen gerührt.“
„Sieh mal, Art Fag!“, sagte Nancy und ergriff das Portal der günstigen Gelegenheiten, “Ich habe
gerade bemerkt, dass Art Fuck und Art Shit hereingekommen sind. Es sieht so aus, als ob er die
Kamera dabei hat.“
„Art Hole“, korrigierte Denver, „und ich bin der Art Marks.“
„Art Hole, Art Fag, Art Shit? Fuck!“, stotterte Margaret ganz verwirrt.
„Art Lush?“, warf Denver ein. „Ja, Margaret, hast Du denn nicht die Plakate an den Telefonzellen
überall in der Stadt gesehen? Dieses ganze Zeug von Art Angels, Art Martyr und Art Marks?“
„Oh, ja. Ich habe davon gehört. Ziemlich witzig. Es fällt schwer, mit allem Schritt zu halten, wenn
man binational lebt. Du weisst ja, ich spreche wie du zwei Sprachen.“
„Esse muy bien de saber, el espanol, si?“
„Ja.“ Sie lehnte sich an die Wand, um Aufmerksamkeit zu erregen. „Und wer bin ich?“
„Ich sagte es dir: der Art Säufer.“
Sie richtete sich ruckartig auf und spitze die Lippen.
„Nun, na ja. Vielleicht deshalb der Art Säufer, weil du nicht gerade wenig trinkst. Aber zweitens bist
du so ein opportunistischer Künstlertyp, so dass die Bezeichnung Art Gringo eigentlich besser wäre.“
„Was willst du damit sagen? Ich bin kein Opportunist. Ich finde das gar nicht witzig.“
„Margaret, deine Kunst besteht einfach aus dem Kopieren von mexikanischen Pappmachépuppen,
nur überdimensional. Das ist eine Art von Opportunismus, wenn du verstehst, was ich meine. Der
Name sollte die Wahrheit ahnen lassen: Art Märtyrer, Art Fag, Art Loch.“
„Wer ist Art Loch?“
„Icky.“
„Ja, Art Arschloch wäre besser. Das passt gut zu ihm. Und wer bist du?“
„Ich war der Art Fag, danach der Art Märtyrer …“
„Dass passt“, sagte sie eingeschnappt.
„Aber jetzt bin ich Art Marks.“
„Art Fag ist besser.“
„Schon vergeben. Bruce ist das jetzt.“
„Vielleicht solltest du einen Doppelnamen haben wie Art Marks-Fag oder …“
„Hallo, Denver!“
Denver war glücklich, vom Art Gringo-Säufer gerettet worden zu sein, obwohl seine Retterin die
Art Diva war, in Schwarz gekleidet vom Scheitel bis zur Sohle, mit ihrem schulterlangen, glatten Haar,
das durch ein Stirnband gehalten wurde. „Hallo, Belinda!“
„Eine Superausstellung. Was gibt’s heute Abend? Spielen die Geniuses?“
„Nein. Sie spielen vielleicht später in diesem Monat. Wer hat dir davon erzählt?“
„Der Trommler.“ Ihr Blick huschte hinüber zu Denver und durchspähte den Raum nach jemand
Interessanterem.
„Sagte er, er würd’s machen?“
„Nein. Er erwähnte nur, dass du gefragt hattest.“
„So findet also heute Abend hier nichts statt?“
„Doch, meine Vernissage.“ Belindas Gleichgültigkeit missfiel ihm sehr. „Es ist eine Kunstverkaufsausstellung.
Reicht dir Shopping nicht als Hobby?“
„Ich kenne deine Wohnung. Aber für ein Kunstwerk habe ich sie bisher nicht gehalten“, liess sie
ordinär lachend verlauten, wobei sie ständig ihre schwarze Vinylhandtasche hin und her schwang.
„Dir ist nicht klar, dass sie ein Kunstwerk ist?“
„Doch, natürlich, Denver. Ich spreche später mit dir.“ Sie klopfte ihm auf die Schulter. Eine Superinstallation.“
Schnurstracks ging sie auf Linda Czchevitza-Mecina und Astro Bob zu.
„Die Zicke sagte nicht einmal ‚Hallo!‘ “
Denver empfand gerade etwas wie Kameradschaft.
„Sie ist eine Art Bitch.“
„Warte! Linda Czchevitza-Mecina ist doch schon die Art Bitch.“
„Na ja, du hast Recht“, bekräftigte sie und zuckte mit der linken Schulter. „Beide können Art
Bitches sein.“
„Wie wär’s mit Art Witch?“, meinte Denver.
„Die Art Witch. Das würde gut passen. Sieh mal, ihre Haut! Sie hat eine Art grünliches Glühen
unter der fluoreszierenden Beleuchtung. Nicht sehr schmeichelhaft, würde ich sagen.“ Sie wandte
sich ihm zu. „Toilettenpause! Ich spreche später mit dir.“ Margaret befreite Denver aus ihrer Gesellschaft
und in Sekundenschnelle waren Icky und Freedom in Denvers Privatsphäre gelangt.
„Denver, schau mal, was ich bekommen habe! José hat mir etwas Gras geschenkt. Freedom hat
schon einen Joint gedreht. Rauchen wir ihn im Galaxy!“
„Yahoo! Auf zur Ausstellung!“
Sie stiessen mit den Gläsern auf ihren Erfolg an.
„Mensch! Astro Bob macht dauernd Komplimente. Er mag die Postkarten und die Fotoroids. Ihm
gefällt das Foto mit der korpulenten Frau am Schwimmbecken und das mit dem Gärtner beim Rasenmähen
vor dem durch Brand zerstörten Haus deiner Eltern.“
„Er zeigt sich schnodderig und belustigt und organisiert die Party wie immer. Er sollte sich vielleicht
für das Amt des Art Mayor bewerben“, schlug Denver vor.
„Fuckmother, Mutter Pissvotze“, war eine Stimme aus dem Unterhaltungsgeplapper herauszuhören.
„Nein, es gibt schon einen Art Mayor.“ Icky begann in der Menge nach Natty zu fahnden.
Denver erspähte April May in einem überlebensgross wirkenden Wildlederkostüm. Man nannte
sie Art Statement, da ihr Lebenslauf acht Seiten umfasste, zum Bersten voll mit banaler Kunstphilosophie
und minutiöser Aufzählung ihrer Kunstaktivitäten von der Kindheit bis zur Gegenwart. Sie
unterhielt sich gerade mit der Frau mit nur einem Namen, Hossanah, einer Art Hippie, die immer
so aussah, als ob sie die gesamte Kollektion ihres Kleiderschrankes angelegt hatte und im Verlauf der
Zeit ermattet war.
„Hallo, Natty!“
Icky kam mit Natural Childbirth und einer wie ein Krug geformten Flasche Festwein. „Hallo! Es ist
toll, dass du hier bist.“
„Ja, wir treten heute Abend zum ersten Mal – Scheisse! – auf seit der Beendigung unserer Tour –
Scheisse!“ Nattys Kopf bewegte sich ruckartig auf eine Seite. „Es ist ein Benefizkonzert für die Free
Health – Scheisse! – Klinik im Townhouse am Ende der Strasse. Wir wollten – Scheisse! – Tonprobe
machen und ich dachte, ich schau mal kurz vorbei.“
„Freut mich. Sag mir einfach, wenn du hier etwas machen möchtest! Es wäre toll: Kunstmusik
vom Art Mayor.“
„Ja, Kumpel, das klingt super.“
„Ich seh dich wahrscheinlich im Townhouse heute zum Feierabend.“
„Hallo, Natty! Hallo, Denver! Hallo, Micky!“ Es war Sheila Kwok, die Art Phoebe. Sie hiess so wegen
der von ihr begonnenen Kampagne, Menschen zu ermutigen an örtlichen Kunstveranstaltungen teilzunehmen,
anstatt vor ihnen als so genannten Elitesymbolen Hemmungen zu haben. Sie misslang
jedoch hoffnungslos aus Mangel an Interesse. Die Menschen hatten keine Berührungs.ngste vor
Kunst; diese liess sie vielmehr einfach kalt.
„Icky!“
„O, ja. Du hast deinen Namen geändert. Ich mag deine Fotoroids sehr, besonders das mit dem
dicken Kind und den aufblasbaren Ringen und dem Schwimmbeckenreiniger. Kennst du ihn?“
„Sheila! Das ist Freedom.“ Die zwei Frauen gaben sich die Hand.
„Dein Kleid gefällt mir “, war sofort Denvers Reaktion.
„Wirklich?“, sagte sie und drehte sich im Kreis, um ihr Werk formvollendet zu präsentieren. Bei
diesem Kleid wurden hundert Liter Wasser gespart. Ich selbst habe es gefertigt, vollständig aus Papier.
Es ist ganz erstaunlich, was man heutzutage aus Recyclingpapier herstellen kann.“
Denver sah Robert in Schlangenlinien durch die Menge gleiten. Dabei hielt er jeweils an, um allen
Bekannten die Hand zu schütteln und sie floskelhaft zu begrüssen.
„Hallo! Wie geht’s? Schön, dass du hier bist.“ Als Robert schliesslich zu ihnen stiess, lächelte er
und sagte: „Denver, du hast gute Arbeit geleistet! Du auch, Icky! Die Leute sind interessiert. Was für
eine wunderbare Idee!“ Er lächelte den beiden Frauen zu.
„Freedom!“
„Hallo! Schön, dich zu sehen.“ Er schüttelte ihr die Hand und ging weiter zu Sheila. „Hallo, Sheila!
Wie geht’s? Fantastisches Kleid! Ich freue mich, dass du kommen konntest.“
„Es tut mir Leid, dass ich anfangs etwas skeptisch war. Aber du hast mich überzeugt.“
Denver und Icky reagierten lächelnd auf sein Lob.
Robert winkte jemandem zu und ging fort.
„Das ist der Galerist?“, wollte jemand wissen.
Sheila drehte sich um und flüsterte Freedom etwas zu, bevor sie sich entfernte.
„Denver, sieh mal! Catherine ist gerade hereingekommen mit ihrem alter ego, der Art Fag.“
„Ich weiss nicht mehr, wer Catherine Lyon ist.“
„Weisst du, sie ist die Type, die immer eine Sonnenbrille trägt, sie ist die Blechdosenbildhauerin.
Wir gaben ihr den Namen Art Ho.“ Icky zeigte auf sich. „Ich kenne den wahren Grund dafür, dass sie
solch eine Brille trägt. Sie schielt auf einem Auge, so dass sie ziemlich blöde aussieht, wenn sie ohne
Brille mit einem redet. Du findest nämlich nie heraus, zu welchem Auge du sprichst.“
„Ich verspürte immer Lust, ihr die Brille vom Gesicht zu ziehen, denn ich kannte ja den medizinischen
Grund nicht. Armes Wesen!“
„Und sie ist immer von einer Schar Männer mit einer lockeren Verbindung zur Kunst umringt.
Aber die meisten von ihnen sind eigentlich ihre Kunden.“ Icky lachte in sich hinein. „Ich möchte mal
wissen, wie viele Männer solch eine scharfe, muschiartige Blechdosenskulptur von ihr besitzen. Ich
hätte solch ein krasses Objekt ungern in meiner Nähe.“ Er nahm einen Schluck Wein. „Schau dir all
diese Markennamen an! Er winkte mit seinem Weinglas der Menge zu. „All diese einstürzenden,
glamourösen Leute!“
„Möchtest du zum Townhouse, wenn die Fete vorüber ist?“ Denver hielt sein Weinglas zum Einschenken
hin.
„Ja, Mann! Ich will fort. Natty fragte mich, ob ich mit ihm Saxophon spielen würde.“ Er goss ihm
etwas Chablis ein.
„Spielt draussen jemand? Ich höre Trommeln.“
„Vielleicht. Ich hör’ auch etwas. Ich schau mal nach.“
„Hallo, Denver! Wer ist die Frau, die soeben hereinkam?“, fragte sie, füllte ihr Glas und stellte den
Krug auf den Boden.
„Wo denn?“
„Da!“ Sie deutete in Denvers Richtung. „Schwarz gekleidet, die Frau mit dem kurz geschorenen,
weissen Haar und einem Blumenstrauss in der Hand. Siehst du sie nicht?“
„Na, das ist Vella – Ich bin der Antichrist-Schwarzmann“, rief Denver aus. Mit ihr hab ich eigentlich
nicht gerechnet.“
„Toll! Wer ist sie?“
„Sie ist die Art Boo.“
„Nein, ich meine: Was macht sie?“
„Oh, sie ist eine phantastische Künstlerin. Sie hat eine Ausstellung ein paar Häuser weiter bei Big-
Art-Big-Hair, obwohl ich meine, dass eine Künstlerin ihres Formats nicht in einem Frisörsalon ausstellen
sollte, selbst wenn er ihrem Freund gehört. Sie hat Museumsqualitäten. Er winkte Vella zu. „Du
weisst, es ist sehr schwer geworden für hiesige Künstler, so dass wir gezwungen sind die Achtung vor
unserer Arbeit dadurch zu untergraben, dass wir in Frisörsalons ausstellen.“
„Nun, Bruder, ich weiss, wovon der redest. Ich könnte die gleiche Situation in jeder Stadt schildern.
Es ist hoffnungslos. Banalität lebt weiter in der westlichen Welt. Geschichte wiederholt sich in
ständiger Redundanz.“
„Hier sind also deine toten Blumen.“ Vella blickte zu Denver hinauf und übergab ihm ihr Geschenk.
„Oh, sie sind schön!“
„Und sieh! Ich hab’ sie nie ausgepackt. Ich hab’ sie mal gekauft und einfach vergessen, wo ich sie
im Studio hingelegt hatte. Sind die Rosen nicht wunderbar? Ich dachte, sie würden dir gefallen.“
„Ausserdem sind sie gelb.“ Er nahm Vella den Strauss ab.
„Sie sind gelb. Wie findest du das?“ Sie berührte den Strauss mit ihren schwarzen Fingernägeln.
„Deiner Kleidung entsprechend.“
„Danke, Vella!“ Er neigte sich um ihre gepuderten Wangen zu küssen.
„Hallo, Denver!“ Roger erschien mit einer weissen Prollfrau im Schlepptau und hielt seinen rechten
Arm um ihre Schultern geschlungen.
„Wieso hast du mich nicht dazu eingeladen, in deiner Schau aufzutreten? Blöder Denver! Nach
allem, was ich für dich getan habe.“
„Komm darüber hinweg, Roger!“, sagte Denver defensiv. „Künstlerisch hast du in den letzten zwei
Jahren nichts zustande gebracht.“
„Ich finde, es war blöd von dir ihn nicht einzuladen“, brachte seine Frau heraus.
„Ich muss Frau und Kind ernähren. Deshalb repariere ich Autos.“
„Manchmal erfahre ich Dank. Kein Wunder, dass in dieser Stadt niemand erfolgreich ist. Wir halten
einfach nicht zusammen.“ Er zeigte auf Denvers Gesicht. „Blödmann, du Kunststümper! Mit dir
will ich nichts mehr zu tun haben.“ Dann verschwand er, seine Frau hinter sich her ziehend.
„Worum ging’s eigentlich?“, wollte Freedom wissen.
„Frag mich nicht! Ich bin immer der letzte, der mitbekommt, wenn jemand mich hasst.“ Er musterte
die Galeriebesucher. “Mist! Jeder hier hat irgendeinen Trick. Sieh mich an: Gelb! Oder nimm die
Art Phoebe! Diese Kleidung! Oder etwa die Art Kitty! Miau, miau!“ Denver ging in die Hocke um sein
Glas zu füllen. „Und da geht der Art Lecker, Tom Brat.“ „Das kann man wohl sagen“, warf Vella ein.
„Weisst du, dass er 50 Riesige für die Zentralbibliothek erhalten hat? Diese Fördermittel, um die wir
uns alle wie eine Gruppe von Krakeelern beworben hatten, und dann vergibt SMAC sie wie sonst auch
an jemanden, der nicht mal in Sacramento lebt.“
„Denver!“ Icky kam angehetzt. „Natty spielt nicht. Draussen stehen einige Protestierende. Sie
haben die Galerie umzingelt.“
Die vier eilten zum Gebäudeeingang und sahen wütende Demonstranten, die trommelten und im
Sprechchor Slogans riefen. Einige lagen am Boden um Besucher am Weitergehen zu hindern. Weil
diese das für einen Teil der Kunstpräsentation hielten, blieben sie meist draussen stehen. Eine besondere
Einlage wurde dadurch gegeben, dass Natty seine Trommelstöcke hervorholte und rhythmisch
auf die Motorhaube des Galaxy schlug.
„Verdammt!“ Icky wandte sich Denver zu. „Ich glaub’, das gibt einen Skandal.“
„Wer ist denn der? Sieht aus wie Elvis“, sagte Freedom und erkannte plötzlich Prediger Dan, der auf
dem Kirchenmobil stand.
„Tatsächlich, nicht wahr?“, meinte Icky und lief hinaus, um sich unter die Menge zu mischen, mit
den anderen im Gefolge. „Sieh dir die geschäftige Art Phoebe an! Sie macht ganz schön Wind mit
ihrem Kleid. Sie kann nur hoffen, dass es nicht davon fliegt.“
„Na, Astro Bob mischt sich ein. Ich möchte gern wissen, was er sich vorstellt.“
„Überall Zügellosigkeit!“, schrillte Prediger Dans Stimme aus den Lautsprechern. „Sünde und
Schmutz!“ Er wedelte mit einem freien Arm über die Menge. „Der völlige moralische Verfall unseres
geliebten Sacramentos! Aber wir werden die Sünder in die Schranken weisen lassen.“
Robert sprang auf, versuchte dem Prediger das Mikrophon zu entwinden, wurde aber von zwei
Kirchenmitgliedern daran gehindert.
„Sie meinen’s wohl ernst“, kommentierte die herbeigeeilte Art Säuferin.
„Vielleicht hättet ihr euch überlegen sollen, diese überall aushängenden Papiercollagen mit Nackten
überhaupt zu zeigen.“ Margaret strebte der Mitte der Bühne zu. „Hallelujah!“, rief sie gellend mit
hoch erhobenem Arm und einem Weinglas in der Hand.
„Wir dürfen uns mit diesem Schund nicht mehr abfinden. Das ist eine Krankheit. Lauft nicht daran
vorbei! Es ist höchste Zeit die Notbremse zu ziehen und zu sagen: ‚Diesen Dreck wollen wir nicht!‘“
„Lauft vorbei!“, rief Icky und drängte sich weiter in die Mitte der Menge.„Wie es einige von euch
machen, wenn ihr Menschen auf der Strasse liegen seht.“ Dabei zeigte er auf die Besucher. „Ihr fragt
nicht, ob sie Hilfe brauchen. Ihr bleibt einfach stehen und schaut zu.“
„Bleibt stehen und schaut zu“, wiederholten Stimmen aus der Menge.
Prediger Dan merkte, wie sich die Aufmerksamkeit der Menschen steigerte. „Durch diese Leute
geht die Gesellschaft moralisch zugrunde.“
„Ich bin ein Sünder!“ rief Icky.
„Ich auch.“
„Ich auch.“
„Wir drei auch.“
Prediger Dan schwadronierte weiter über seine Mission, und bald schrie und brüllte die gesamte
Menschenmenge, wobei jeder den andern an inbrünstiger Zustimmung für den Geistlichen zu übertrumpfen
versuchte. Unabsichtlich hatte er einen gewaltigen Enthusiasmus erzeugt vor allem bei
denen, die im Zentrum des Protestes standen. Spontane Performance-Kunst oder religiöses Ereignis:
Sowohl Künstler als auch Christen waren von der Predigt gefesselt.
Margaret fiel vor dem Kirchenmobil auf die Knie und wiederholte jedes seiner Worte und verdrehte
ihre Worte bis zur Ekstase. Andere stimmten mit ein; sie lagen ausgestreckt, umarmten ihre Nachbarn
oder redeten in Zungen. Aber Prediger Dan hielt einen Augenblick inne, voller Misstrauen, als
sogar Robert überw.ltigt war und sich bekreuzigte.
Freedom war umhergelaufen um zu fotografieren, fühlte sich aber plötzlich gezwungen teilzunehmen,
obwohl sie nicht verstehen konnte, weshalb die Kunstinteressierten sich zu solch extremem
Verhalten hatten hinreissen lassen. Sie setzte ihre Sonnenbrille ab, blickte hinauf zum Himmel,
knöpfte ihre Bluse auf um ihre Brust zu entblössen und begann die Marseillaise zu singen.
Andere wiederum klopften rhythmisch auf das Galaxy. Eine Gruppe Punks bildete einen Kreis um
die Art Phoebe, die Art Diva and die Art Boo. Sheila drehte sich so schnell im Kreis, dass ihr Papierkleid
zerriss, fortgeweht wurde und sie nur noch ein paar Fetzen davon am Leibe trug.
Dem Beispiel folgend öffnete die Art Diva plötzlich ihre schwarze Bluse, zog ihre Brust hervor um
sie dem Geistlichen darzubieten und rief: „Ich weiss, was Gott will.“
Um nicht von der Art Diva übertroffen zu werden, lüftete Vella ihren Rock und zeigte ihre schwarzen
Spitzenhöschen.
„Es steht geschrieben:“, rief Prediger Dan. „Wir brauchen dieses perverse Kunstzeug nicht.“
Daraufhin stellten sich die Auserwählten hinter ihm auf und es erscholl das speziell für die
Situation verfasste Lied:
Ich habe eine Familie
und gesunde Kinder.
So soll es bleiben.
Ich brauch keine Sünde.
Die Punks hüpften rascher beim Anblick der exponierten weiblichen Anatomie. Freedom hörte auf zu
singen und mischte sich unter die Menge. Vella stand nun vornüber gebeugt mit dem Rock über dem
Kopf, und die schwarzen Spitzenhöschen flatterten im Wind. Prediger Dan war schockiert und zugleich
erregt wegen der günstigen voyeuristischen Gelegenheit, und der Chor fuhr fort zu singen:
Es gibt Perverse,
die sich exhibitionieren.
Entledigen wir uns ihrer:
In die Hölle mit ihnen!
„So’n Mist!“ Icky schlug sich auf die Stirn. „Seht mal, wer dort oben hinter Elvis singt!“ Er stiess Denver
an. „Ich traf sie am Schwimmbecken, als wir nach Lemon Hights Grove gefahren waren und die
Freizeitangebote des Vororts genossen.“
„Von wem sprichst du?“
„Von der da auf der Bühne“, sagte er und deutete mit dem Finger in die Richtung „die mit Elvis
am Mikrophon steht.“
„Die, deretwegen du mich am Schwimmbecken hast stehen lassen.“
„Ja, genau! Sie besitzt doch diesen blöden Hund, der meine Schuhe zerrissen hat, so dass ich im
Sommer barfuss laufen musste.“ Er nahm Augenkontakt mit ihr auf und winkte. „Ich hab’ nie gedacht,
sie würde sich mit einem Heiligen Elvis einlassen.“
„Ist das wirklich so?“ Freedom war nun hinter den beiden, die Kamera auf die Auserwählten
gerichtet.
„So ist es.“ Beide nickten beifällig.
„Icky meint einen der Sänger zu kennen.“
„Wen?“, fragte Freedom und machte einen Schnappschuss.
Seid wachsam! seid wachsam!
Diese so genannte Kunst
ist nicht schön.
Die brauchen wir nicht.
„Micky!“ Crystals Stimme erklang.
Icky drängelte sich durch die Menge.
„Oh mein Gott, Crystal, meine tochter!“, rief Freedom und folgte Icky zum Kirchenmobil.
„Mutter!“ Crystal war offenbar überrascht von dem plötzlichen Erscheinen Ickys und ihrer Mutter.
Sie vergass ihre Bühnenrolle als Auserwählte und fiel beide in die Arme.
„Sie ist deine Tochter?“, fragte Icky Freedom, als sie Crystal zur Strasse hinunterfuhren.
„Ja.“
„Mutter! Micky! Was macht ihr denn hier?“ Was ist denn hier los?"
Bevor absolutes Chaos ausbrach, konnte Icky nur noch feststellen: „Jetzt verstehe ich: wohin ich
auch gehe, es kommt auf mich an!“
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