43. butterflies are free at the zoo
43. butterflies are free at the zoo
Wie kam ich hier her? Diese Frage beschäftige Denver, als er die K-Street entlang lief. Er fühlte sich
deplatziert und nichts schien ihm vertraut.
Er dachte daran, dass seine Mutter einst gesagt hatte, dass er, wenn er von seiner morbiden Faszination
der Infragestellung von Dingen ablassen würde, vielleicht einen ordentlichen Job erhalten und
ein normales Leben führen würde. Der Gedanke hatte ihn damals erschreckt, aber schliesslich glaubte
er, dass ihre Meinung vielleicht doch einige Körnchen Wahrheit enthielt. Wenn er aufhören würde
die Heuchelei und Doppelmoral der Gesellschaft in Frage zu stellen und sie einfach akzeptierte, wäre
sein Leben bestimmt leichter.
Als er an den Blocks vorbei und durch die Gassen des Grid lief, kreisten seine Gedanken an
schmerzliche Augenblicke im letzten Jahr durch seinen Kopf. Seine Gesundheit und seine Finanzen
hatten gelitten: schreckliche Zahnschmerzen, Wurzelbehandlung, eine Krone und das Bankkonto
mit roten Zahlen. Seine Liebe, sein Job, das Haus der Eltern – alles weg. Anderseits hatte seine Künstlerkarriere
überlebt und gedieh sogar in dieser turbulenten Übergangszeit.
Wer weiss, was hinter der Ebbe des Lebens liegt, fragte er sich, während er auf die Vorbeifahrt
des Zuges wartete. Er wagte sich ganz nah an die Waggons heran, so dass das Geräusch und die sonstige
sinnliche Wahrnehmung der Bahn den Hintergrundrhythmus für seine Gedanken bilden
konnte.
Ich sehe es so, dass es zwei Typen von Menschen gibt, einmal die, die religiös sind und and an
einen männlichen Gott glauben, und die, die alles im Frage stellen oder zu vielen verschiedenen Gottheiten
beten aus Gründen der Ausgewogenheit. Zur zweiten Kategorie gehöre jedenfalls ich. Mir ist
unverständlich, weshalb überhaupt institutionalisierte Religion existiert. Warum hat der Mensch es
nötig, seine Familie mafiaartig zu organisieren, Frauen zu unterdrücken und die Zukunft zu kontrollieren?
Wer war der spirituelle Yahoo der die ganze organisierte Angelegenheit begann, die jetzt in
das dritte, vierte oder fünfte Jahrtausend eintritt? Ich kann die Diskussion über Israelis und Palästinenser,
Protestanten und Katholiken oder Moslems und Hindus, Kapitalisten und Liberale nicht mehr
hören, ebenso die über diese Fundamentalisten, die sich untereinander wegen einer Ideologie töten,
die nur sie betrifft.
Ich kann es nicht verstehen, vor allem, weil ihre Dogmen Liebe und nicht Krieg verkünden. Ihre
Ideologie predigt ihre Art von Liebe und schliesst Homosexuelle aus, nennen mich einen Parasiten,
eine Krankheit, findet fragwürdige Methoden, mich aus der Gesellschaft auszuschliessen, und stecken
mich in Institutionen wie Kliniken und Knäste. Wenn ich wirklich überkandidelt wäre, würde ich
entweder gesteinigt oder dazu verurteilt in einem Frisörsalon zu arbeiten. Weg mit diesen Yahoo-
Religionen!
Der letzte Waggon fuhr gerade vorbei und bevor die Signallichter und -glocken ausgeschaltet
waren, war Denver schon auf der anderen Seite der Gleise. Wie laufen doch die meisten einfach vorbei,
denken nicht über das Gewöhnliche nach, sind nur von ihm umgeben. Ein Musterbeispiel sind
meine schlichten Erzeuger, Menschen, die täglich Lunchpakete nach nicht Verzehrtem durchsuchen,
ihre Kinder ins Ferienlager der Young Opportunists of America zur Charakterbildung schicken und
amerikanischen Kram in Grossmärkten oder über E-Bay zu sehr hohen Preisen kaufen.
Meine Mutter ist eine frustrierte Hausfrau in einem Käfig lebend, den ihr Unterdrücker ihr als
Ideal errichtet hat. Mein Vater ist ein Rädchen im Getriebe der kapitalistischen Gesellschaft. Beide
sind nicht fähig, ihre Perspektive zu verändern, obwohl sie in einem Land unbegrenzter Möglichkeiten
leben. Es ist nicht verwunderlich, dass ich mich zu dem entwickelt habe, der ich jetzt bin. Aber
ihre repressive Erziehung hat wenigsten als Katalysator für meine Kreativität gewirkt.
Ich möchte die Notwendigkeit von naturbelassenen Tomaten bezweifeln, von der perversen Schönheit
eines modischen Polyesterhemds beeindruckt sein, den Reiz spüren, wenn ich im nächsten Gebrauchtwarenladen
eine Niel-Jung-Platte mit den grössten Hits finden. Die Welt ist voller einfacher
Vergnügen, etwa den Pennern zuzusehen, die Einkaufswagen am Fenster vorbeischieben, gebrauchte
Gayman-Comics zu lesen, Skulpturen aus Büroklammern herzustellen und Wachsfrüchte zu pellen.
Er trat gegen eine leere Mineralwasserdose, die plötzlich auf dem Gehweg auftauchte. Der Abendnebel
hielt den Boden bedeckt. Früher am Tag hatte es geregnet und die Luftfeuchtigkeit betrug annähernd
einhundert Prozent. Denver konnte nur wenige Meter weit sehen. Dem unerfahrenen Fussgänger
konnte es leicht passieren sich zu verlaufen und vor der Mandelfabrik auf der anderen Seite des
Grid zu landen.
Er nahm das Flackern der Rund-um-die-Uhr-Lichter des ‚B ’n B‘ in der Ferne wahr. Es war ein
billiges Lokal im Erdgeschoss der Sutter-Bank auf der anderen Strassenseite vom Sutter-Krankenhaus,
schräg gegenüber der Sutter-Festung, nahe der Sutterville-Einkaufszentrale. Die freundliche
rote und blaue Neonschift beruhigte noch jeden Sonderling, der nichts Besseres zu tun hatte an einem
kalten und feuchten Herbstabend. Er stiess die Glastür auf und sah Icky an der Theke eine Karotte
essen. „Hallo Micky!“
Icky drehte sich sofort um, legte die Karotte weg, sprang vom Hocker und lief auf Denver zu. „Oh
heilige Oshun, Venus, Aphrodite und Mutter Maria!“ Er griff nach Denvers Mantel und fiel ihm um
den Hals.
„Du kannst dir nicht vorstellen, was mir passiert ist,“ sagten sie gleichzeitig und umarmten sich
innig. „Warum?“ Sie halfen einander aufzustehen. Was denn?“, und zeigten aufeinander. „Weisst du?“
„Was soll ich wissen?“, dabei zeigte er auf sich und zuckte mit den Schultern.
„Das Haus?“
„Welches Haus? Ist was mit deiner Wohnung?“
„Nein, aber mit dem Haus meiner Eltern.“
„Was ist denn passiert?“
„Ich kann dir einiges berichten.“
„Denver, Moment bitte. Ich muss dir was erzählen. Jemand gab mir den Code um mit den Aliens
zu sprechen.“
Sie gingen zur Theke und nahmen Platz. „Das Haus meiner Eltern ist abgebrannt. Sie sind jetzt
obdachlos.“
Icky griff nach Denvers Kopf und Ohren. „Du wirst es nicht glauben. Ich habe den Code in der
Tasche.“
„Was darf ich Ihnen bringen?“ Eine gertenschlanke Kellnerin war zu hören.
„Eine Tasse Kaffee und zwei Honigbrötchen, bitte“, sagte Denver.
„Nochmals das gleiche?“, fragte sie Icky. Der murmelte; Ja, bitte.“
„Oh“. Denver erinnerte sich und entzog sich dem Griff an die Ohren. „Können Sie mir den Gefallen
tun, sie in die Mikrowelle stellen und dann mit Butterstücken belegen?“
Die Bedienung nickte Denver lächelnd zu.
„Kannst du das glauben?“ fragte Icky und biss in die Karotte.
„Ich glaube an den Lottogott.“
„Ägypten.“ Icky nahm einen weiteren Biss. „Ägypten?“
„Ä.G.Y. P.T. E.N. Ja, Ägypten heisst der Code um mit den Ausserirdischen zu sprechen. Ein Staatsangestellter
mittleren Alters gab ihn mir heute Abend.“
„Was für ein Angestellter?“
Na, dieser weishaarige Typ an der Haltestelle.“ Er zeigte nach draussen. „Derselbe, der mir meine
Brieftasche zurückgegeben hat, wenn du dich erinnern kannst. Damals war mir das nicht klar. Er
sagte, er hätte mich beobachtet. Später wurde es mir sonnenklar. „
„Oh, das ist ja abenteuerlich!“
„Ja, nicht wahr? Derselbe Typ tauchte dann unvermittelt nochmals auf, händigte mir den Code aus
und sagte noch, ich sollte mehr Karotten essen.“
Er biss wieder hinein. „Du hättest sehen sollen, wie ich der Kellnerin eine Karotte zu abzuluchsen
versuchte Das hat vielleicht gedauert! Offensichtlich steht frisches Gemüse nicht auf der Speisekarte.“
„Meine Schwester hat mich hysterisch angerufen. Mutter muss hoch entzündliche Substanzen
gemischt haben, wodurch eine Kettenreaktion erfolgt ist, und es entstand ein Loch im Dach, oder die
Ausserirdischen sind eingedrungen und haben sie aus dem Haus entführt.“
„Wirklich?“
„Nein, aber das Haus hat gebrannt, das Loch ist da und meine Eltern nicht mehr,“ sagte meine
Schwester.
„Das ist ja ’ne Tragödie. Was ist nun mit deinen Eltern?“
„Sie werden nach Florida ziehen, wer weiss? Es ist mysteriös. Ich muss nun möglichst schnell
nach Fresno.“ Er wartete auf ein Angebot auf Icky. Als es ausblieb, wechselte er das Thema. „Was wirst
du nun mit dem Code anfangen?“
„Genau das ist’s ja.“ Er dachte kurz nach. „Ich weiss es noch nicht. Es ist was Spirituelles.“
Die Kellnerin fragte: „Noch etwas?“
„Nein, danke“, sagte Denver und fragte: „Wo hast du ihn getroffen?“
„Gegenüber. Er sagte, er empfinde ungeheure Energie. Ich bekam’s fast mit der Angst zu tun.“
Icky blickte sich unsicher um.
„Wie sah er denn aus?“
„Er strahlte ungeheure Ruhe aus und sagte, es wäre die Energie von den Ausserirdischen. Sie seien
zu Besuch.“ Dabei spuckte er kleine Möhrenbrocken aus.
„Was hat es mit den Möhren auf sich?“, fragte Denver und wischte die Theke sauber.
„Oh, ja. Bevor er zu plaudern begann, griff er an meine Ohrläppchen und fühlte sie, so wie ich’s
eben bei dir probiert habe. Als er sie drückte, sozusagen massierte, empfand ich einen Schmerz im
rechten Ohr, der bis zum Rücken ausstrahlte, als ob mich eine Nadel gestochen hätte. Dann forderte
er mich auf mehr Karotten zu essen. Ich weiss nicht warum, vielleicht um gelassener zu werden.
Dieses Ding gab er mir für meine Seelenruhe.“ Er zeigte Denver die Schnur, die er an einem Handgelenk
trug. „Ich soll darüber nachdenken, wo ich bin, wenn ich sie anschaue.“
„Gut, du bist nun im ‚Bum ’n Burn‘ und musst einfach noch mehr Karotten essen. Der Mann hört
sich ja an wie ein Makrobiotikfreak oder wie ein Jünger der Sekte der bescheidenen Karotte.“ Denver
riss ein Stück vom Brötchen ab und tunkte es in den warmen Kaffee. „Und Micky Hill wird den
Planeten retten. Liebe alle, diene allen! Kalifornien über alles! Du bist das New Age!“
„Mensch!“ Dabei stiess er Denver mit der Schulter an. „Mein Name ist doch
Icky Ill. Hast du’s schon wieder vergessen?
„Tschuldigung! Icky Ill wird den Planeten retten. Klingt sogar noch besser.“
„Das mit dem Haus deiner Eltern ist ja bizarr. Ich träumte mal davon, dass Brot unter enormer
Rauchentwicklung in einem Toaster verbrannte. Es hörte einfach nicht auf zu brennen, auch nachdem
ich das Gerät ausgeschaltet und das Brot herausgenommen hatte.“
„Ist nicht dein Ernst?“
„Doch in einem früheren Leben.“
„Also, Micky, vielmehr Icky, ich muss unbedingt nach Fresno, und zwar so bald wie möglich.
Kannst du mich vielleicht hinfahren?“
„Oh, Fresno?“
„Ja. Ich habe nur wenige Möglichkeiten, nur dich und deine Kontakte zu den Aliens.“
„Weisst du, welcher Tag heute heute ist?“
„Ich glaube Samstag. Warum?“
„Mist. Morgen ist Sonntag. Es ist nicht koscher sonntags zu fahren; aber es ist ja ein Extremfall.
Lass mich überlegen! Erstmal möchte ich stoned sein. Hast du Shit dabei?“
„Hab’ gar nichts zu rauchen.“
„Ach, schade!“
Die schlanke Bedienung kam wieder. „Nachschub?“ Sie füllte nach ohne auf die Antwort zu warten
und verschwand in der Küche.
„Sie fürchtet wohl, dass ich sie wieder fotografiere.“
„Vielleicht sollte ich das ‚D‘ und das ‚G‘ in meinem Namen weglassen. Wie hört sich Enver Riess
an. Ich glaube, nicht schlecht.“
„Eindeutig antikonstruktivistisch.“ Beide nahmen einen Schluck Kaffee. „Schauen wir mal, ob der
José zu Hause ist und etwas Shit hat. Ich muss mich beruhigen, bevor ich mir irgendwas vornehmen
kann.“
„Da oben gibt’s eine Menge Energie, wie dein Alien-Freund gesagt hat. Ich spüre das auch. Aber
die Familie Griess ist nun ohne ein Dach überm Kopf. Ich möchte gern wissen, was für katastrophale
Ereignisse sich noch in meinem Leben ereignen werden. Haben wir heute Abend Vollmond? Welche
Planeten- und Hauskombinationen machen mein Leben unangenehm? Dies ist bestimmt kein gutes
Jahr für mich. Es muss das Jahr der Eidechse sein. Du würdest mich also hinbringen?“, fragte er
kauend.
„Was,sofort?“
„Ja, so schnell wie möglich. Die Fahrt dauert nur vier Stunden. Wir schaffen es noch vor Sonnenaufgang.“
„Ich weiss nicht, ob das Galaxy es noch schafft, und ausserdem wird laut Wetterbericht ein starker
Sturm aus dem Süden erwartet.“
„Natürlich packt das Galaxy es noch. Ich bezahle das Benzin und du möchtest die Stadt doch für
einige Zeit verlassen.“
„Aber ich will nicht nach Fresno.“
Nun, ich habe einen guten Grund nach Fresn
„Ich dachte: diese Vibrator-Nummer.“
„Ich glaube, wir müssen das Projekt noch besser ausarbeiten.“
„Vielleicht können wir dabei irgendwie den Code verwenden.“ Es folgte eine längere Pause, in der
Icky auf die Bushaltestelle starrte, bevor er fragte: „Gut, wann geht’s los“
„Jetzt sofort.“
„Hast du schon gepackt?“
Denver bejahte und blickte auf seine an dem Hocker hängende Reisetasche.
Icky dachte kurz nach und lächelte. „Ich find’s gut sofort aufzubrechen, bin immer für Schnelligkeit.“
„Noch einen letzten Schluck Kaffee. Ich zahle, gehe aber vorher noch zum Geldautomaten an der
Tankstelle. Dann geht’s zu José um noch etwas Gras aufzugabeln, Danach können wir starten. Wo
hast du denn den Wagen geparkt?“
„Am anderen Ende der Stadt. Unterwegs halten wir bei José.“
Denver machte sich bei der Kellnerin bemerkbar, indem er Geld auf die Theke legte. „Weisst du,
Icky, ich finde es phantastisch, dass du im Besitz des Codes bist.“
„Eigentlich, Denver, ist das keine grosse Sache.“
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