48. heil peace

 48. heil peace


Als die hellen Lichter des Fernsehteams auf ihr nächstes Opfer schwenkten, reflektierten die akustischen

Deckenkacheln und die passende braune Furniertäfelung im Licht der Fernsehkamera und

Icky wurde wieder einmal daran erinnert, wie bei Burger Queen alles so gestaltet wurde, dass es besonders

ansprechend aussah, genauso wie auch in den anderen Burger-Queen-Restaurants in der

ganzen Welt. Um das allgegenwärtige Braun zu ergänzen gab es orangefarbene Platten auf dem

Boden, die aus rostfreiem Stahl bestehende Thekenausstattung und bewegliche Tafeln aus Karton zur

Ankündigung der monatlichen Spezialangebote. Einfach, aber wirksam.

Nachdem er sich von Denver in einem Café im Stadtzentrum verabschiedet hatte, war Icky durch

Fresno gewandert auf der Suche nach intelligenten Lebensformen. Irgendwie war er jedoch in einem

Burger Queen gelandet.

Die Angestellten trugen blaue und burgunderrote Polesterstrickkleidung, die auf groteske Weise

ihre starke Korpulenz oder krankhafte Spindeldürre noch betonte. Zwischenstufen existierten nicht.

Die junge Frau, die Icky bediente, besass den grössten Hintern, den er jemals gesehen hatte. Gern

hätte er gewusst, ob die Fernsehleute den auf Video bannen würden. Es müsste eigentlich eine Bezeichnung

für diese Krankheit geben, meinte er und holte seinen Fotoapparat aus dem Rucksack.

Er starrte auf ihr Gesäss und malte sich aus, wie er wohl unbekleidet aussehen würde, als sie zur

Tiefkühlabteilung lief. Ihre blaue elastische Hose wabbelte und dehnte sich rhythmisch aus.

„Wünschen Sie noch etwas?“. fragte sie.

„Ich denke, ich nehme einen Milchshake.“ Er zeigte dabei auf das Angebot über seinem Kopf. Sehr

erfreut war ihr Gehänge aufnehmen zu können, als sie sich umdrehte.

„Noch etwas?“, fragte sie wieder ohne die Fotoaktion bemerkt zu haben.

Icky überlegte einen Augenblick und antwortete mürrisch: „Nein.“

„Einen schönen Tag!“

„Das sagen alle.“

Sie schaute nicht einmal auf.

Er nahm sich noch mehrere Portionen Zucker und Ketchuppäckchen von dem Selbstbedienungstablett

für einen Imbiss am Nachmittag und ging hinüber zu einer Sitzecke unter einem Regal

mit Trockenspaghetti und verschiedenen Hülsenfrüchten. Er fragte sich, wer wohl für solch eine gelungene

Dekoration verantwortlich war, denn beides stand in Burger-Queen-Restaurants nicht auf

der Speisekarte. Ein Schmalztopf oder Dosen mit Geschmacksverstärkern waren dagegen üblich. Er

stellte sein Tablett ab, warf die ‚Fresno Bee‘ auf den Nebentisch, legte den Rucksack und seine regennasse

Jacke ab und nahm in der Plastiknische Platz.

Er hielt diesen für den geeigneten Ort um sich zu trocknen und nachzudenken und gab sich einer

melancholischen Stimmung hin. Überall Langeweile und Fadheit. Aber mir fällt jetzt kein besserer Ort

ein. Es ist egal, ob man viel Geld hat oder ein Künstlertyp ist, man bekommt hier, was man will.

Er biss in seinen Whooper, so dass die orangefarbene Sosse über sein Kinn lief. Während er den

Hamburger verschlang, beobachtete er die anderen Gäste.

In einer Sitzecke sassen Rentner, die den Sportteil der ‚Fresno Bee‘ lasen, Kaffee aus Pappbechern

tranken und gelegentlich ihre Schnurrbärte kraulten. Neben ihm sass eine übermüdete Mutter, die

in den Regen hinausblickte, als ihr Kind durch Kohlehydrate aufgedunsenes Gesicht eine aus Tiefkühlnahrung und Dosengemüse zubereitete Speise in sich hineinschaufelte. In einer anderen Sitzecke

waren schwarzhaarige Teenager-Latinas mit stark geschminkten Augenbrauen zu sehen. Sie

trugen Bluejeans und gebügelte weisse Hemden. Ein anderer Künstlertyp sass allein im hinteren

Restaurantteil in Toilettennähe.


Das kleine Mädchen am Fenster stopfte eine Fritte in ihre Nase, zog sie wieder heraus und legte

es auf das Tablett seiner Mutter. Icky sah ihr angestrengt zu, öffnete langsam seinen Mund und

zeigte dem Kind den Inhalt, worauf auch sie den Mund aufmachte und die zerkauten Pommes

Frites auf das braune Plastikbrett fallen liess. Ihre Mutter, die den unappetitlichen Vorgang mitbekommen

hatte, griff nach dem Kinn der Tochter und schob die Nahrung wieder in ihren Mund

zurück.

Sie schimpfte: „Du weisst doch, wie man kauen muss!“ und liess wieder von ihr ab.

Nach dem Herunterschlucken lief ihr Gesicht hellrot an, dem geöffneten Mund entwich ein Schrei.

der die Gäste aufhorchen liess. Schnell stand die Mutter auf, scheuchte das Kind aus der Sitzecke heraus

und zog es zur Toilette hin. Als sie vorbeikamen, steckte auch Icky sich eine Fritte in die Nase und

saugte sie sich dann in den Mund. Die Mutter war wütend und das Mädchen heulte.

Der Vorfall erinnerte ihn daran, wie seine Mutter einmal dem betrunken nach Hause gekommenen

Mann als Bouletten getarntes Hundefutter zu essen gegeben hatte. Er biss hinein und übergab

sich am Küchentisch. Die Lehre war jedoch nicht erfolgreich gewesen.

Icky ass den Rest des Whoopers und trank einen Schluck Shake. Der schmeckte etwas nach Mayonnaise

und er beabsichtigte eigentlich ihn zurück zu bringen um die Gesässanomalie nochmals zu

sehen. Aber er entfernte den Platikdeckel und streute reichlich Zucker hinein in der Hoffnung den unangenehmen Geschmack kaschieren zu können.

Er nahm eine Packung Mentholzigaretten aus der Brusttasche und plante eine Wiederholung seiner

neo-erroristischen Aktion, entschied sich aber dagegen. Er war nicht in der Stimmung die Energie

dafür aufzubringen seinen Standpunkt deutlich zu manchen. So spielte er mit der Schachtel und

dachte über Doppelmoral nach.

Mir ist unverständlich, weshalb Kalifornier wegen eines höheren Benzinpreises eher einen Krieg

anzetteln als einfach weniger Auto fahren würden. Die Abgase und nicht mein Zigarettenrauch verursachen

den sauren Regen. Schon vor langer Zeit hätte man die Benzinpreise erhöhen und alternative

Energiequellen erschliessen sollen.

Jetzt ist es zu spät. Einflussreiche Leute versuchen Mutter Erde zu kontrollieren durch ihre religiösen

Dogmen und haben auf ihr Mafiastaaten errichtet.

Mensch, wo hab’ ich das denn schon mal gehört? Sollte das denn nicht so sein? Sollen wir nicht in

der Wassermannzeit sein, in der wir uns in Delphine zurückverwandeln um eines Tages ins Meer

zurückzukehren?

Er grübelte über das bisschen Selbstaufklärung nach, während er aus dem Fenster blickte und

Zeuge wurde, als ein Auto beim Fahren durch eine Pfütze einen Fussgänger bespritzte.

Das Leben ist grausam, kommentierte er, und dann stirbst du.

Warum werden Alkohol und Zigaretten besteuert, und andererseits fressen Menschen sich feiste

Gesichter an? Durch Übergewicht sterben mehr Menschen als durch Rauchen. Sie sollten Fastfood

besteuern und nicht meine drei Glücksdrogen so scheissteuer oder scheissillegal machen.

Man konnte die unterdrückten Schreie des Kindes in der Toilette hören.

Dann steckte er sich eine Zigarette zwischen die Lippen, schaute hinüber zu der allein in einer

Ecke sitzenden Frau hinüber, die er für eine Künstlerin hielt. Sie war schwarz gekleidet, hatte pechschwarze

Haare und trug eine schwarze runde Brille. Das einzig Farbige waren ihre roten, vollen und

im Neonlicht glänzenden Lippen. Icky lächelte, nahm einen Zug aus der Zigarette und blies den Rauch

in ihre Richtung. Sie nickte ihm zu und deutete auf einen ihrer Mundwinkel.

Er nahm eine Ausgabe der ‚Sutters Weekly‘ aus dem Rucksack. Von seiner durchnässten Regenjacke

war Wasser auf den Boden getropft und hatte sich mit dem Schmutz seiner Schuhe zu einer trüben

Pfütze vermischt. Er blickte dort hin, lächelte in sich hinein und erkannte unabsichtlich eine neoerroristische

Aktion durchgeführt zu haben.

„Sag mal, kann ich eine Zigarette schnorren? Meine sind aufgeraucht und im Regen möchte ich


nicht auf die Strasse gehen.“ Es war die Frau mit den roten Lippen. Sie stand da mit ihren schwarz

bemalten Fingernägeln und stützte sich auf die Tischplatte.

Er blickte von seinem Revolverblatt auf. „Ja, sicher.“ und bot ihr eine an.

„Danke.“ Sie steckte sie in ihre Handtasche und zeigte auf die Zeitung: „Du

liest die ‚Sutters Weeky‘. Hast du das über den Mann gelesen, der eine Kohlrübe geheiratet hat,

nachdem er von seiner Verlobten abgeschoben worden war?“ „Nein, ich hab’ sie gerade erst gekauft.

Soll das in dieser Ausgabe stehen?“, fragte er mit der Zigarette noch im Mundwinkel.

„Ja, hier, ich zeig’s dir gleich.“ Sie legte ihren schwarzen Mantel und ihre Handtasche auf den

Plastiksitz, setzte sich Icky gegenüber und blätterte.

Icky hatte unabsichtlich Augenkontakt mit der korpulenten jungen Frau. Sie sah ihn kopfschüttelnd

an. Er lächelte und dachte, dass Burger Queen eigentlich der geeignete Ort für eine dicke Frau

wäre.

„Du hast übrigens einen orangefarbenen Fleck auf einer Wange, Ich liebe ‚Ask Dolly‘! Sie kann

manchmal sehr frech sein.“

„Ich würde lieber Oprah T. Eunist lesen“, sagte Icky, nahm eine Serviette um die Feuchtigkeit hinter

einem Ohr aufzusaugen und die Zigarette dorthin zu stecken.

„Hier steht die Geschichte, die letzten Sommer bekannt wurde. Sie handelt von der Frau, die ins

Krankenhaus von Eureka gebracht worden war. Sie war schon fast tot. Als ihr Blut abgenommen

wurde, strömte fürchterliches Gas aus ihren Adern, das mehrere Menschen im OP tötete. Es wurde

ein Geheimnis darum gemacht. Ich selbst habe nur einen Bericht im Fernsehen gesehen und das war

das letzte, was ich dazu gehört habe. Es scheint so, als ob niemand darüber sprechen möchte. Einfach

bizarr! Was in ihren Venen hätte denn Menschen umbringen können? Wirklich unglaublich!“

„Ich hab’ auch davon gehört. Es war einige Tage in den Nachrichten. Danach war plötzlich nicht

mehr die Rede davon. Was sagt man?“ Ickys Neugierde war entfacht.

„Man sagt, dass sie ins Krematorium eingeliefert wurde. Hoffentlich kommt es nicht noch zu einer

Explosion.“. Sie kicherte. „Offensichtlich liegt sie schon sechs Monate lang versiegelt in der Leichenhalle,

und kein Angehöriger hat sich bisher gemeldet. Ihr Name ist unbekannt. Man nennt sie Eureka

Doe.“ Sie blätterte um.

„Hier steht eine herzzerreissende Geschichte über eine Mutter, deren krankes Kind von Ausserirdischen

entführt worden war und drei Jahre danach mit gesundem Herzen zurückgekehrt ist. Es

fällt schwer das zu glauben, nicht wahr? Ich meine, es gibt einfach noch keinen eindeutigen Beweis

dafür, dass Aliens existieren, und hier sagt eine Mutter ihr Kind wäre von einem gekidnappt worden.

Ich meine, man sollte doch auf’m Teppich bleiben.“

„Ich werde sofort die Aliens anrufen.“ Er nahm die Zigarettenschachtel und hielt sie an ein Ohr.

„Aliens, meldet euch! E.G.Y. P.T.“

„Ja, ich möchte sie sprechen, wenn Sie fertig sind.“

„Siehst du sie nicht? Ich meine: …“ Er blickte sich lässig um. „Hier im Burger Queen sind überall

Aliens. Sie sind sozusagen in einer anderen Sphäre, reisen durch die vierte Dimension, sie sind Zeitreisende

und springen nach Belieben aus der Vergangenheit in die Gegenwart und in die Zukunft.

Sie tarnen sich als menschliche Wesen und besuchen uns durch Wurmlöcher. Schauen Sie sich um!

Ich weiss, dass Aliens hier sind.“

„Bist du sicher?“, fragte sie.

„Ja, und ich nenne dir den Grund. Es ereignet sich einfach zu viel Seltsames im Leben. Ich glaube

fest, dass die Aliens darauf Einfluss haben. Natürlich kann man die Umstände nicht beherrschen,

aber man muss die Energie für die Verwirklichung schaffen. Man muss lernen ihr Wurmloch zu beherrschen.

Für mich sind diese seltsamen Vorfälle Beweis genug für ihre Existenz.“

„Oh, gut zu wissen.“ Sie blätterte weiter. „Hier ist was Interessantes über Sacramento.“

„He, ich von dort. Was steht denn da?“


„Die Stadt soll eine der langweiligsten in den USA sein und das wäre der Grund für die sehr hohe

Zahl von Totschlägern und Massenmördern dort. Sieh mal: Sacramento wurde in Schlangenlinienbuchstaben

gedruckt.“

Icky schaute hin und fühlte Genugtuung, dass die Stadt schliesslich die Anerkennung erhielt, die

sie verdiente,

„Lebst du zur Zeit in Fresno?“, fragte sie zögernd, als ob sie ihn nicht verletzen wollte.

„Nein, ich wohne noch in Sacramento, bin hier nur zu Besuch, denn das Haus der Eltern meines

Freundes wurde von Aliens angegriffen. Woher bist du eigentlich, wenn ich fragen darf?“

„Ich komme auch aus Sacto. Früher lebte ich mal in Fresno; aber ich bin schon ungefähr ein Jahr

auf Reisen. Jetzt bin ich nach langer Zeit mal wieder hier.“

„Warum Fresno?“, fragte Icky nach.

„Weil ich hier an der Staatsuni als Dozentin tätig war und einige Leute kenne, die hier geblieben

sind. Es ist eigenartig wieder zurückzukommen.“

Sie zitterte.

„Was hast du denn unterrichtet?“

„Kunst. Ich bin Fotografin.“ Sie drehte die letzte Seite um.“ Ich nehme an, dass die Geschichte

über die Kohlrübe hier drin ist.“

„Wurdest du vom Fernsehen interviewt?“

„Ja. Worum ging’s eigentlich dabei?“ Sie nahm einen Schluck von Ickys Shake.

„Es ist wohl so ein Tag ohne besondere Nachrichten, so dass man beschloss Menschen in Schnellrestaurants

zu interviewen.“

„Huh, das schmeckt ja scheusslich! Was ist denn da drin?“ Sie stellte das Getränk weg.

„Ich weiss. Es soll Kürbisgeschmack sein und schmeckt eher wie seifige Mayonnaise. Was hast du

ihnen also gesagt?“

„Abstruses Zeug, das den biederen Bürgern sicher die Haare hat zu Berge stehen lassen.“

„Ich auch, ich habe ihnen mitgeteilt, dass ich Gouverneur des neuen Staates Eureka werden

möchte. Das wird die Einheimischen bestimmt provozieren.“

„Kann ich Kulturministerin werden?“

„Dafür müsste ich zuerst deinen Ausweis sehen.“

„Was machst du, wenn du dich nicht bewirbst?“

„Ich bin von Beruf Go-go-Tänzer.“

„Ja, klar.“ Sie musterte ihn von oben bis unten.

„Ja, ich bin nicht immer Tänzer gewesen. Davor war ich Sexworker und mein Ziel war die Gesellschaft

trocken zu saugen; aber jetzt bewege ich mich zu einer anderen Musik. Ich biete mich auf dem

Markt an. Es handelt sich um ein Produkt.

„Bei welchen Veranstaltungen trittst du auf?“

„Oh, ich tanze immer, ohne Unterbrechung. Selbst hier im Burger Queen bewege ich mich als

Go-go-Tänzer.“ Er stampfte mit seinen Füssen auf und trat dabei in die Wasserlache unter dem Tisch.

„Mensch, ich werde ja ganz nass!“ Sie hob ihre schwarzbeschuhten Beine hoch.“ Als ob ich nicht schon

nass genug bin. Soviel Regen habe ich noch nie erlebt, nicht mal in Mexiko. Kannst du dir das vorstellen?“

„Der Grund dafür ist, dass der Mensch versucht hat, sich die Erde zu unterwerfen und sie dadurch

schwer geschädigt hat. Vor allem hat er versucht die Zeit in den Griff zu bekommen, weil er seine

Sterblichkeit nicht wahrhaben will, und ausserdem …“

„Moment mal! Ich verstehe dich nicht“, unterbrach sie und blätterte wieder in der Zeitung.

„Die institutionalisierte Religion ist das Übel. Eine einfache Antwort: Weg mit ihr!”

„Also hier ist ein Brief in der ‚Ask Dolly‘-Rubrik von einem Typen über seine Mutter, die ihn dauernd

ermahnt sich eine Arbeit zu suchen. Er schreibt, er sei Musiker, verdiene damit aber nicht genug

um seine Rechnungen zu bezahlen. Eine Freundin hat er nicht mehr, kein Auto, keine Wohnung und


muss bei seiner Mutter wohnen. Aber die ist wohl bösartig, erinnert ihn ständig an seine Schwächen.

Eine Morgens schüttete sie Wasser auf ihn um ihn dazu zu bewegen endlich aufzustehen.“

„Und was rät Dolly ihm?“, fragte er mit grossem Interesse an der Antwort.

„Na, sie ist ziemlich brutal, nennt ihn einen Stinkstiefel, weil er schon fünfundvierzig Jahre alt ist

und sich um seine Mutter kümmern sollte und nicht umgekehrt.“

Icky ahmte mit einem Arm ein Gewehr nach und hielt damit auf die ‚Ask Dolly‘-Kolumne. „Peng!

Peng!“, stiess er hervor und blies imaginären Rauch von seinen Fingern. „Hat sie nicht den Fehler

begangen ihn nicht rechtzeitig von den Rockschössen zu entfernen?“

„Ja, genau.“

„Sieh mal, dieser arme Typ will Musik machen, aber leider kann er nicht mit McHeala, McElvis

und McDonna konkurrieren. Die Menschen schätzen den einfachen Kunstgenuss nicht mehr. Sie

wollen Masse. Wenn es nicht Superstereosound mit Laserstrahlen ist, dann ist es nichts wert. Das

Theater ist tot, akustische Musik ist tot die Malerei ist tot und die Literatur ebenfalls. Die Musen werden

nacheinander umgebracht. Selbst die Idee ist tot. Das Publikum fürchtet sich vor etwas Lebendigem,

weil jemand es anspucken könnte. Die Menschen fürchten sich vor Gegenwartskunst, weil sie

kritisch ist. Sie fürchten sich vor Live Art und bevorzugen Die sichere tote Variante.“ Er hielt inne und

zündete die Zigarette mit einer Flamme aus seinem Zippy-Anzünder an. „Ziemlich gut“, kommentierte

Freedom seine Geschicklichkeit.

„Möchtest du auch eine?“

„Ja, gern.“

Icky zündete ihre mit der gleichen geschickten Bewegung an. „Freiheit der Wahl ist das, was sie

wollen, und Freiheit von der Wahl haben sie bekommen.“ Er blies den Rauch fort.

Sie lächelte und sagte: „Ich heisse Freedom.“

„Kein Jux?“

„Nein, es ist die Übersetzung des italienischen Liberta.“

„Liberta ist auch ein schöner Name.“

„Ja, mein Name gefällt mir.“

„Und beides bedeutet Freiheit.“ Icky griff seine Schimpfkanonade wieder auf. „Man fragt sich, was

worauf folgt, auf das Leben die Kunst oder auf die Kunst das Leben. Niemand stellt mehr Fragen. Wie

oft hat man die Flugzeuge in das World Trade Center fliegen sehen? Die Bilder sind millionenfach

reproduziert worden. Sie sind jetzt Teil unserer Kultur. Das ist Kunst im wahren Sinne. Aber niemand

versteht es. Der Kampf ist gewonnen, und wir sind von der Technik überw.ltigt worden. Wir wundern

uns nicht mehr. Selbst die Idee ist tot.“

Die korpulente Bedienung kam an den Tisch. „Entschuldigung. Ich weiss nicht, aus welchem Staat

Sie kommen; aber in kalifornischen Restaurants darf man nicht rauchen. Es ist illegal. Sie müssen

die Zigarette ausmachen.“

Freedom steckte ihre in den Milchshake. „Oh ja, ich habe nicht daran gedacht. Es tut mir leid.“

„Jetzt geht die Scheisse los. Es tut mir nicht leid.“ Icky drehte sich um und setzte seinen Gefühlsausbruch

fort. „“Wessen Gesetz ist es denn? Ist es Ihr Gesetz? Haben Sie es beschlossen?“ Er blies

den Rauch fort, liess die Zigarette auf den Boden fallen und stampfte mit den Füssen auf, so dass

Wasser umherspritzte. „Da, sie ist aus.“

Sie trat einen Schritt zurück und reagierte, wie jeder willfährige Helfer, verblüfft über bürgerlichen

Ungehorsam, reagieren würde und fragte: „Wollen Sie, dass ich die Polizei rufe, mein Herr?“

„Sagen Sie mal,“, sagte Icky, „machen Sie eigentlich gern, was Sie machen müssen?“

„Ich weiss nicht, wovon Sie sprechen. Kann ich Ihr Tablett haben?“

„Erstens ist es nicht mein Tablett. Dieses hässliche Ding würde ich nicht als meins bezeichnen. Zweitens

reden Sie mich nicht mit ‚Herr‘ an. Ich bin kein Herr und werde nie einer sein. Ich finde die Bezeichnung

äusserst unangenehm und zu militärisch. Wir sind hier nicht in der Armee. Und drittens …“


Die Kellnerin drehte sich um und watschelte weg.

„Dies ist kein Restaurant, und ich bin noch nicht fertig.“ Er wandte sich Freedom zu und fragte:

„Hast du schon mal sowas erlebt?“

Sie blickten sich erstaunt an, bis die Frau verschwunden war.

„Möchtest du etwas trinken? “Er stand auf, suchte in seiner Hemdtasche und zog einen Lotterieschein

hervor. „Gib mir die Zeitung von dort drüben!“ Er zeigte dabei auf den Tisch nebenan. „Tu mir

den Gefallen meine Zahlen zu überprüfen, während ich noch etwas Saft hole!“

Sie nahm die Zeitung. „Du hast ihr eine ziemlich unangenehme Frage gestellt. Die hat sie ziemlich

aus der Fassung gebracht.“

Beide lachten.

„Eigentlich sollte ich nicht lachen, denn meine Mutter ist auch füllig.“ Freedom schlug die dritte

Seite der ‚Fresno Bee‘ auf um die Lottozahlen zu vergleichen.

Als er mit den Getränken zurückkam, bemerkte er, wie sie mit einem Zeigefinger auf die Zeitung

tippte und die Zahlen auf dem Schein deutlich aussprach.

Was? Was? Er griff an ihre Schulter.

Sie zeigte weiter auf die Nummern und rutschte unruhig auf ihrem Sitz hin und her. „Ich, ich

glaube, du hast gewonnen“, sagte sie zunächst leise und rief dann laut: „Ja, du hast gewonnen!“

„Was, gewonnen? Ich habe im Lotto gewonnen? Wie viele Zahlen sind richtig? Zeig mal!“ Er hielt

Freedoms zitternde Hand und konnte sechs Richtige erkennen. „Du hast Recht! Ich habe alle sechs

richtig.“

„Ich sitze jetzt neben einem Millionär. Lass mich ein Foto machen!“ Sie holte ihre Kamera heraus

und begann zu knipsen.

„Ich habe gewonnen, ich habe im Lotto gewonnen! Unglaublich!“ Er sprang schreiend herum.

„Ich habe tatsächlich gewonnen!“

Die übrigen Gäste erlebten, wie Freedom Icky in Ekstase aufnahm.

„Ja, es ist wahr!“ Ganz aufgeregt knipste sie mehrere Male. „Ich hab’s selbst gesehen!“

„Schnell raus!“, sagte er und hielt den Schein hoch mit zitternder Hand.

„Oh, ich kann’s nicht fassen. Ich habe jemanden kennen gelernt, der viel gewonnen hat. Du wirst

jetzt ein schönes Leben haben, mein Lieber!“

„Ja, sofort, sofort!“ Er zog seine Jacke an und fing an zu singen. „Ein gutes Leben, ein schönes

Leben! Keine Probleme mehr! Fotografiere weiter und komm mit!“

Dann ging er zur Bedienung an der Theke. „Ich habe im Lotto gewonnen, Freundin, und ich

möchte wissen, warum es hier diese Regeln gibt, die Sie zur Sklavin machen. Warum arbeiten Sie

hier? Weshalb tragen Sie diese blöde Uniform? Die ist einfach hässlich. Warum wollen Sie sich denn

anpassen? Warum wollen Sie kontrolliert werden?“

Dann wandte er sich an die anderen Gäste: „Warum wollen Sie kontrolliert werden? Sie sitzen alle

schön in Ihrem geliebten Burger Queen und vergeuden Ihr Leben in Fresno, Kalifornien. Aber ich

habe im Lotto gewonnen!“ Dann stellte er den Lottoschein zur Schau. „Ihre Langeweile ist nicht zu

übertreffen und doch so unglaublich. Sie interessieren sich nur für Sport, Hollywoodstars, die neueste

Tennisschuhmode in der Mall oder das modernste Auto im Schaufenster. Sie wurden in diesem Ort

geboren und werden wohl auch hier sterben. Diese Stadt weist nichts Besonderes auf wie auch jede

andere. In jedem Haushalt gibt’s eine Waffe und Kerosin in jeder Garage. Eigentlich müsste man

euch alle in die Luft sprengen.”

Icky lief zum Ausgang und hielt Freedom die Tür offen, nahm dann einen grossen Knallkörper

aus einer Plastiktüte im Rucksack und zündete mit seinem Feuerzeug die Zündschnur an, warf ihn

auf den Boden, streckte seinen linken Arm in die Luft und rief: „Wir sind die Opportunisten. Geschicklichkeit

und Geld! Heil Peace!“






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