21. vor dem gesetz gleich

21. vor dem gesetz gleich


Miss California nahm ihr GAP-Badetuch und trocknete sich ab. Sie setzte sich und zog einen Granny

Smith aus ihrem weissgrünen Hängesack hervor.

Als Schnelldenker ergriff Micky die Gelegenheit in verbalen Kontakt zu treten.

„Du weisst, man kann aus einem Apfel eine Bong herstellen. Hab’ ich im Knast gelernt.“

Verblüfft blickte sie um sich und erkannte, dass die Stimme von dem seltsamen Wesen neben ihr,

das als Micky bekannt war, herrührte. „Verzeihung.“

Drück mich, dachte er und kicherte in sich hinein. „Ich sagte, man kann aus einem Apfel eine

Bong herstellen.“ Er nahm einen Schluck Bier und sah zu, wie sie es sich bequem machte um Verbalverkehr

zu treiben.

„Du kannst eine Bong bauen? Warum hast du das gelernt?“, fragte sie sarkastisch und spitzte ihre

Unterlippe. „Weshalb warst du im Gefängnis?“

„Ich bin freiwillig rein gegangen.“

„Was? Freiwillig? Warum hast du das gemacht?“, fragte sie und biss in den Apfel.

„Ja, und es war auch nicht einfach. Es dauerte, bis ich hinter Gittern sass.“

„Welcher Knast war das?“

„Der neue im Stadtzentrum.“

„Wie ist’s denn dort?“ Sie leckte ihre Lippen ab. „Es ist sicher in einem der schönsten Gebäude im

Zentrum.“

„Innen ist’s sauber und gut beleuchtet. Es riecht sehr steril.“ Mit einem Handrücken wischte er

sich den Schweiss von der Stirn. „Sie nehmen sehr starke Reinigungsmittel und die Zellen stinken

danach. Aber weisst du, was komisch ist? Da sind außerdem Fruchtfliegen, denen es irgendwie gelingt

hineinzugelangen. Du weisst: die immer Deckenlampen umschwirren, sogar wenn das Licht

ausgeschaltet ist.“

„Was?“ Sie war etwas verblüfft.

„Aber die Fliegen waren nicht meine einzige Gesellschaft.“ Er setzte sich auf und legte seine Beine

über Kreuz. „Man sperrte mich in eine Arrestzelle mit der Creme der Unterwelt von Sacramento. Da

war der vor Liebeskummerkranke Jungendliche mit einer Jungfrau-Maria-Tätowierung und einem

Stirnband. Ständig rief er: „Yo vero lumiere, y esta muy bueno.“ Er roch wirklich schrecklich. Wahrscheinlich

hatte er sich vollgepisst, bevor er rein gekommen war und es begann zu gären.

„Das ist ja ekelhaft. Krass!“, sprach sie mit Valley-Akzent.

„Ja, ich weiss; und da war dieser asiatische Typ, der gar nichts sagte und uns dauernd anstarrte. Er

sass ein wegen Körperverletzung. Später erfuhren wir, dass er sich illegal im Land aufgehalten hatte

und nun fürchtete abgeschoben zu werden.“

„Stammt das von dir?“ Sie zeigte auf die Sutters Weekly, die Micky für alle zum Lesen hingelegt

hatte.

„ALIEN SPACE SHI’T’, Das ist ja sehr lustig.“

„Danke. Lust auf ’ne Zigarette?“ Er griff nach der Papiertüte und holte eine Packung markenloser

Mentholzigaretten hervor.

„Nein, danke, ich rauche nicht“, erwiderte sie höflich und öffnete stattdessen eine Redbull. „Weißt

du, ich glaube nicht, dass du hier rauchen oder Bier trinken darfst.“

„Was meinst du? Es ist doch außerhalb, oder nicht?“

„Ja, aber, ich weiss nicht. Du bist auf – hm – Privatgelände. Es ist rechtlich verboten.“

„Was denn? Ich verstosse jeden Tag gegen das Gesetz. Die meiste Zeit weiss ich nicht einmal, dass

ich etwas Falsches mache. Ich bin sowieso ein grosser Fehler. So mach dir nichts draus. Ausserdem


bin ich im Gefängnis gewesen und es macht nichts.“ Er zögerte einen Augenblick und zündete sich

eine Zigarette an, bevor er fort fuhr. „Nun, da war dieser Typ, den ich erkannte; er muss etwa fünfzehn

gewesen sein, ein Kind noch. J. J., du weisst ja, ‚Jumpin‘ Jamal’s’ – Gebrauchtwagendepot, diese

blöden Angebote spät abends im Fernsehen, wo die beiden auf Trampolinen herum springen und

Autopreise nennen.“

Sie nickte übertrieben und biss wieder in ihren Apfel. „Er war über seinen Vater wütend und sagte

mir, dass er im Gefängnis war, weil er im Haus des Vaters wild herum geschossen hatte. Ich schätze,

dass blinde Wut selbst bei Minderheiten vorkommt. Später berichtete er mir, dass er der Polizei eine

andere Version der Geschichte erzählt hatte, dass er sich gegen einen eindringenden Schwarzen verteidigt

hatte. Das war eine ziemlich lahmarschige Begründung von ihm, aber ich denke, man glaubte

ihm, denn sie liessen ihn kurz danach frei.“

„Ja, ich erinnere mich daran etwas darüber in den Nachrichten gesehen zu haben.“

„Ich auch. Das Haus war ein Schlachtfeld.“

„Aber das Erschreckendste war ein wirklich grosser Typ, der mich starr anblickte. Dieser Typ, etwa

ein Meter neunzig gross, war hundert Kilo schwer.“

„Oh, du klingst ja wie ein Alien. Bei uns heisst das Pfunde und Inches.“

„Ja, ich weiss. Aber findest du es nicht merkwürdig, dass die USA das einzige Land sind, das die

Körpermassbezeichnungen noch aus der Zeit von King George verwendet?“

„Ich wusste nicht, dass die auf einen König zurückgehen.“

„Ja, und zwar auf einen englischen, was alles umso verrückter macht; jedenfalls sagen wir einfach:

Der Typ war wirklich riesig. So fragt er mich etwas über meine Jacke, kommt auf mich zu und fängt

an mich zu streicheln. Dann fragt er danach, wo ich sie gekauft habe, ob jemand sie mir geschenkt

habe, ob ich jemanden sehen wollte? Verrückte Fragen, wenn du verstehst, was ich meine.“

Sie nickte.

„Mir war völlig unklar, worum es eigentlich ging. Ich denke langsam, dass er meinen Arsch will,

und die schlimmeren Szenarios kommen einem in den Sinn. Aber zum Glück hatte er es nur auf

meine Jacke abgesehen. Was könnte ich also sagen?“

Sie zuckte mit den Achseln und biss in ihren Apfel.

„Ich konnte nicht Nein sagen. Dieser Typ mag ja dick gewesen sein, aber hätte mir die Jacke wahrscheinlich

mit seinem kleinen Finger wegreissen können. Ich gebe sie ihm, und weißt du, was er

macht?“

Sie schüttelte den Kopf und bot Micky schliesslich einen Biss von ihrem Apfel an.

„Er möchte gern meine Jacke durchsuchen und ich denke, dass er durchgedreht ist. Danke. Er biss

hinein und reichte ihn zurück.“

„Oh, Eureka!“, rief er kauend aus. „Die Jacke muss wirklich gestunken haben. Es war draussen

brütend heiss und ich war gerade dabei Zwiebeln zu schneiden.“ Er schluckte. „Aber das hielt ihn

nicht davon ab sein Gesicht damit einzureiben und den Duft kräftig einzuatmen.“

„Oh, mein Gott! Das ist ja ekelhaft“, schrie sie und stampfte mit den Füssen auf den Pflaster auf …

„Willst du noch mehr hören?“, fragte Micky. „Es ist wie – die Wahrheit. Ich weiss, es hört sich verrückt

an.“

„Ja“, antwortet sie schnell. „Gott, das habe ich mir nie vorgestellt. Wie, wird’s schlimmer?“

„Ja so ungefähr; es kommt drauf an wie man es betrachtet. Keine Sorge. Es ergibt sich, dass sie ein

zahmes Tierchen ist und einfach so ins Gewebe der Jacke geraten ist. Er sagte, er verspüre sehr gern

Seide auf seiner Haut. So kamen wir ins Gespräch und ich erzähle ihm, dass ich im Gefängnis war,

und er erzählt mir, dass er festgenommen wurde, weil er den Obdachlosen Lebensmittel gegeben

hatte.

„Nein, nicht wahr! Sie schüttelte den Kopf und bot ihm den Rest des Apfels an. Niemand wird festgenommen

weil er Obdachlose verpflegt. Du lügst!“


„Danke.“ Er biss immer wieder hinein bis zum Gehäuse. „Es ist jedoch wahr.“ Er spuckte die Kerne

aus. „Ich sagte dasselbe; ich konnte es selbst nicht glauben. Ja, man, es gibt eine gesetzliche Bestimmung,

dass man die Obdachlosen nicht verpflegen soll, weil das ein Verstoss gegen die Hygienevorschriften

wäre. Ich meine, das Gesetz gibt es, um uns davor zu schützen, Nahrung zu uns zu nehmen,

die uns vergiften könnte.“ Er hustete. „aber die Menschen, die sterben würden wenn sie nicht

ihr Erdnussbuttergeleesandwich erhalten würden, sind ganz schön angeschmiert. Darüber hinaus

ist’s so politisch, weisst du? Die Stadtverwaltung will nicht, dass Leute auf der Strasse leben. Faulheit

ist in ihren Augen eine Krankheit. Damit würde die Stadt ihr wahres Gesicht zeigen und das ist

schlecht für den Fremdenverkehr. Ich frage mich nur, was für Touristen eigentlich nach Sacto kommen

sollen. Ich kann mir Tausende anderer Orte für Fremdenverkehr vorstellen.“

„Wie auch immer.“ Sie nahm einen Schluck Redbull. „Wie kamst du eigentlich ins Gefängnis? Was

für ein grauenhaftes Verbrechen hast du begangen? Hast du jemanden zusammengeschlagen oder

eine Bank überfallen oder sonst irgendwas Dummes gemacht?“ Sie blickte ihn spöttisch an.

„Oh, ja. Nun, wie ich grade sagte, bin ich freiwillig hinein gegangen. Es war auch nicht leicht, sondern

vielmehr wirklich schwer.“ Er drückte seien Zigarette auf dem Pflaster neben dem Becken aus.

„Es begann alles, als ich diesem Anruf erhielt. Ich habe den Mann immer bezahlt. Ich glaube seit meiner

Geburt habe ich immer bezahlt. Als die Geldeintreibungsfirma anrief und mir sagte zur Polizei

zu gehen, oder als sie kamen um mich festzunehmen und mich dafür bezahlen liessen, beschloss ich

freiwillig ins Gefängnis zu gehen.“ Er leerte die letzten Tropfen aus seiner Dose und griff hinüber zur

Papiertüte. „Möchtest du ein Bier?“

Einen Augenblick zögerte sie, lehnte aber ab. „Nee, eher nicht.“ Sie wedelte mit einer Hand vor

sich herum. „Ich trinke einen Redbull. Vielleicht später. Jedenfalls danke. Du hast gesagt, du gingst

freiwillig hinein, weil dich jemand angerufen hatte.“

„Ja, Ich war damals sehr naiv.“ Er zündete eine weitere Zigarette an. „Ich bin nicht sofort hingegangen.

Das zeigt, wie blöd ich war. Nein, am folgenden Tag, als ich im Restaurant arbeitete, nachdem

ich eine Menge Zwiebeln geschnitten hatte, …“ Er unterbrach rauchend seinen Satz und fuhr

dann fort: „begann ich tonnenweise Käse zu reiben, der zum Pizzabacken benötigt wurde und überlegte,

was wohl besser wäre: Käse zu reiben oder im Knast zu leben. Dann glaubte ich allmählich, dass

ich viele Jahre lang einen Berg Schulden zu schultern hätte: Ich würde niemals wieder studieren können,

wenn ich sie nicht tilgen und damit das Problem lösen würde.“ Er rülpste.

Sie hörte aufmerksam zu.

„So hörte ich einfach auf zu reiben und ging, und zwar für immer, geradewegs zum im Planquadrat

an er neunten und J-Strasse gelegenen Gefängnis und klingelte. Ich wiederholte es dreimal und

stand vor der Tür wie ein Idiot, roch wie eine gepellte Zwiebel und fragte mich, ob ich wirklich soweit

gehen wollte. „Zu spät. Schliesslich kommt dieser Polizist an die Tür und fragt mich, was ich wolle

und ich erzähle ihm, dass ich von einer Schuldeneintreibungsfirma angerufen worden bin wegen

meines noch nicht erhaltenen Studienkredits und ich da bin, um freiwillig inhaftiert zu werden. Na

wenn ihn das mal nicht verwirrt hat. Er hiess mich warten und sagte, er werde gleich zurück sein.

„So stand ich also und hatte das Gefühl, dass es in der Welt sehr ungerecht zuging, weil ich meinen

Studienkredit nicht zurückgezahlt habe. Bildung sollte umsonst sein hab’ ich immer gesagt. Der

Grund dafür, dass so viele Ballermänner umherlaufen, ist der, dass der Schulbesuch so teuer ist. Heutzutage

muss man zum atmen schon etwas bezahlen.“

„So bin ich hier und stehe vor dem Gefängnis, sehe nicht sehr vorteilhaft aus, trage aber diesen

gelben Seidenmantel, den ich von meinem Freund dort drüben geschenkt bekommen habe.“ Er deutete

auf Denver und dann auf die Jacke. „Ich roch und sah vielleicht aus wie ein gottverdammter Taco.

Und weisst du, was ich machte?“

Völlig in Bann geschlagen blickte sie rasch auf das Kleidungsstück und kehrte zurück um Micky

anstarren, der seien Geschichte weitererzählte.


„Ich klingelte nochmals.“

„Nicht.“

„Verdammt nochmal. Ich bin der geständige Verbrecher. Mich sollte man nicht warten lassen.

Schliesslich kommt doch der gleiche Polizist zurück, entschuldigt sich für die lange Wartezeit und

sagt das sei nicht üblich.“

„Ich kann immer noch nicht glauben, dass du freiwillig hinein gegangen bist, weil jemand dich

angerufen hatte.“ Sie lächelte und fragte: „Könntest du mir einen Gefallen tun? Kannst du meinen

Rück einkremen?“ und gab Micky eine Tube ‚Brand de Soleil‘.

„Ja, sicher.“ Micky versuchte so lässig wie möglich zu bleiben, denn er wusste schon, dass sein

Plan sämtliche Erwartungen weit übertroffen hatte. „Es wäre mir ein Vergnügen.“ Schnell erhob er

sich und ergriff die Tube.

Sie zog ihre Schultern in seine Richtung hoch, als er eine beträchtliche Menge des starken Designer-

Bräunungsmittels in seien rechte Innenhandfläche drückte.

„Brauchst du dieses Zeug?“ Er roch daran bevor er es auf seien Hände rieb.

„Ja, es tut der Haut gut. Fahre fort! Sag’ mir, was dann passierte!“

„Mensch, das Zeug brennt aber.“ Er wedelte mit seien Händen durch die Luft. „Was ist denn da

drin?“

„Was? Keine Ahnung. Reib’ es einfach ein!“ Sie schüttelte erwartungsvoll ihre Schultern.

Er kniete hinter ihr nieder, begann die ‚Brand de Soleil‘-Creme in ihre Poren einzumassieren und

erzählte seien Geschichte der Kleinkriminalität weiter, während er die gesamte Zeit über beim Einreiben

eine Drehbewegung vollführte. „Wo war ich stehen geblieben?“

„Du hast die Sprechanlage betätigt.“

„Oh ja, schliesslich kommt diese andere Polizist herunter. Ich erzähle ihm, dass ich wegen meiner

Schulden angerufen wurde und mich sofort beim nächsten Polizeirevier melden sollte. Auch er sagte

mir, dass das nicht der übliche Weg sei. Aber wenn ich wollte, könnte ich bis zur Klärung in der Kapelle

warten.“

„Was?“

„Ja. Es ist eigentlich ein Wartesaal, in dem jede Religionsgemeinschaft vertreten ist. Wahrscheinlich

ist es ein überwachter Raum, in dem verborgene Mikrophone und Kameras angebracht sind um

dein Geständnis Gott gegenüber aufzuzeichnen. Dort befinden sich all die guten Bücher im Regal

und sämtliche religiösen Broschüren, die man sich überhaupt nur vorstellen kann. Es gibt sogar Lektüren

der Opportunitätskirche First Christian, etwas, das mich seit meiner Heirat interessiert hat.“

Er nahm die Tube und verteilte noch mehr Salbe auf seinen Handflächen. „Schon merkwürdig, das

jetzt zu lesen und durch all den Mist durchzublicken, den sie dir auftischen.“

„Warte!“, unterbrach sie, „Zurück zu dem Erste-Opportunität-Thema. Worum ging’s dabei, wenn

ich fragen darf?“

„Mist, wenn du’s glauben kannst. Ich war ein wiedergeborener Opportunist. Meine Frau war damals

eine totale Anhängerin. Oh, sie war vernarrt in Prediger Dan und all die anderen.“

Während dieses Schwadronierens hatte Micky geistesabwesend die Hälfte des Tubeninhalts auf

sich und seine Gesprächspartnerin gespritzt und fand es nun schwierig damit fertig zu werden.

„Prediger Dan, ich kenne ihn!“, stiess sie plötzlich hervor und zweifelte, ob sie davon erzählen

sollte.

„Ja, viele kennen ihn, auch ich. Meine frühere Frau war, wie gesagt, völlig in ihn vernarrt, und über

unserem Bett hing ein Samtgemälde von ihm.“

„Oh, krass!“

„Nicht wahr? Ein Lebensabschnitt, den ich am liebsten vergessen möchte. Aber, weißt du, ich war

ja jung und ziemlich labil, also leicht formbar. Ich meine, jeder glaubt an irgendetwas, sei’s Prediger

Dan oder Mo Hamin, Moe Jesus, den Holy Spook oder St. Elvis, wie auch immer. Man trifft sich, singt

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einige Lieder, nimmt gemeinsam eine Droge wie z.B. Wein oder einen Giftfruchtcocktail, tanzt den

Liebestanz und ist vereint, vereint wozu, würde ich sagen. Um herumzulaufen und Menschen umzubringen,

die nicht wie du glauben, an den allmächtigen Yahoo glauben, an einen Gott, den spirituellen

abgefuckten Mann, alles im Namen der institutionalisierten Religion, anders gesagt: Scheisse,

die Kirche ist wie eine Disko, ausser dass man nicht in den Toiletten ficken kann.“

„Wovon redest du eigentlich? Wenn dir es nichts ausmacht: ich glaube, da ist jetzt genug Öl auf

meinem Rücken. Möchtest du, dass ich dich auch einreibe?“

„Nein, Mann. Mein ganzer Körper ist schon davon bedeckt. Ich denke, ich werde gleich ins

Schwimmbecken springen.“

„Dann mal los!“, sagte sie schnippisch.

„Hier, lass mich etwas auf deine Beine auftragen“, schlug er vor und lief um sie herum. Sie rollte

sich zum Rand der Liege, lehnte sich zurück und streckte ihre Beine von sich, sodass Micky das viele

Bräunungsöl besser loswerden konnte.

„Nein, bitte, verstehe mich nicht falsch!“, fügte er eilig hinzu, kniete vor ihr nieder und umfasste

ihr linkes Bein. „Wenn du so alt bist, bist du voll gestopft mit Idealismus und geneigt die Welt zu verändern.

Zwar habe ich nicht aufgehört, die Welt positiv verändern zu wollen, aber der jugendliche

Dogmatismus ist mir jetzt fremd. Jetzt bin ich einfach ein A.K.N.E.-Künstler. Ich denke nicht mehr darüber

nach ‚wie ich jemanden überzeugen kann.“ Er lächelte und hoffte, ihre ungeteilte Aufmerksamkeit

wieder zu erlangen.

„Wie also, haben sie dich am Ende eingelockt?“, fragte sie und streckte dabei ein Bein weit aus,

damit Micky das Öl gründlicher auftragen konnte.

„Alles, meine Liebe, so geschah es, und weisst du, der verdammte Knast ist eine wahre Klapsmühle.

Die Ironie dabei ist, dass ich mich auf den Strassen von Sacramento sicherer fühlte als in dem

gottverdammten Kittchen.“

„Da halte ich mich also in dem Warteraum auf und nach vielen Augeblicken der Stille kommt so

ein breiter Schranktyp mit Schnurrbart herein, reisst mich hoch, schmeisst mir Handschellen an und

stösst mich in einen anderen Raum. Der ist aber fast leer, hat nur einen Tisch und ausgeleierte Stühle

und ist durch Neonbeleuchtung gleissend hell. Die Wände des aseptisch reinen Raumes sind in äusserst

blassem Grünweiss gestrichen. Weisst du, man könnte seine Seele in solch einer Umgebung

total öffnen. Der Raum wird tatsächlich deine Seele und es gibt keine Geheimnisse mehr.“

„Die Hexe in der blauen Polyesteruniform stösst mich zum Stuhl und drückt mich fest darauf. Sie

kehrt zurück und wirft mir Formulare zum Ausfüllen hin, und es waren einige! Alles wollten sie wissen

und weisst du, was alles?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Ein winziger Bleistift lag auf dem anderen Ende des Tisches; aber sie reicht ihm mir nicht herüber.

Ich sollte mir selbst helfen. Dann war sie verschwunden.“

„So bin ich also 20 bis 30 Minuten allein um nachzudenken.“ Während er die Geschichte erzählte,

strich er kreisförmig mit den Händen über ihre Knie. „Alles mögliche Verrückte spielte sich in meinem

Kopf ab. Aber etwas liess mich nachdenken, das mich veranlasste, darüber zu fantasieren, wie das

Leben im Gefängnis sein würde, und das war der kleine gelbe Bleistift. Sie wusste, dass er da war aber

sie erwähnte ihn nicht. So musste ich also aufstehen, den Stift nehmen und irgendwie die Gefängnisformulare

ausfüllen, und das alles in Handschellen. Mein Leben lief vor meinen Augen wertlos

wie das einer Amöbe ab und ich stellte mir vor, wie begeistert ich sein würde, auf das Geschenk eines

kleinen, gelben Bleistift zu stossen und das Wesen des Schreibens und der Kommunikation wieder zu

entdecken.“

„Mensch, das ist eindrucksvoll“, flüsterte sie, schaute dabei in seine Augen und rutschte näher an

den Rand der Liege. Sie war genauso ergriffen von Mickys Bericht über das kriminelle Abenteuer, wie

er von der Kunst, ihr diese Geschichte zu erzählen ergriffen war.

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„Schliesslich kommt sie zurück und fängt an mich anzuschreien, ich sollte ihre Zeit nicht verschwenden

und die Formulare endlich ausfüllen. Letztlich halte ich doch den gelben Bleistift verkrampft

in meiner linken Hand, als ob das die wichtigste Sache der Welt wäre. Ich war gefühlsm.ssig

überw.ltigt und bedauere etwas, so weit gegangen zu sein.“

Mickys Hände ruhten nun auf ihren Oberschenkeln. Ihm wurde zugehört und die Erregung der

Eroberung spornte seine Hormone zur Höchstform an.

„Ich schaue angestrengt auf das Gefängnisbewerbungsformular und denke im Stillen, warum ich

mir das alles antun muss. Es hat mich viel Zeit gekostet, so weit zu gelangen, denn ich bin der Schuldige

und nicht du. Wenigstens gab ich etwas zu. Wer weiss denn, welche Geheimnisse in deinem

Fleischfach liegen?“

„Nun, sie muss wohl meine Gedanken gelesen haben; denn danach ging alles ganz schnell. Und

bevor ich es ganz begriff, befand ich mich hinter Gittern zusammen mit einem liebeskranken Latino,

einem fremden Asiaten, einem muslimischen Fundamentalisten und einem drei Zentner schweren

schwarzen Humanisten.“

„Und piss drauf!“, sagte er und bewegte sich nach vorn, so dass sich seine Hand und die Nase der

Schönen fast berührten. „Die Geschichte ist noch nicht zu Ende.“




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