22. onkel eiter

 22. onkel eiter

Auf dem Weg zurück zu ihrem Arbeitstisch beschloss sie sich eine weitere Tass Kaffee zu gönnen.

Diesmal wollte sie ihn schwarz trinken. Ob es so bleiben würde oder nicht, interessierte sie kaum.

Ihre Gedanken waren woanders.

Mr. Cole hatte ihr mitgeteilt, dass wegen des Schlags auf Martins Kopf zwölf Stiche erforderlich

waren. Man hatte die rechte Kopfhälfte abrasieren müssen, und obwohl seine Nase durch Mr.

Thorndorns spastischen Stoss nicht gebrochen worden war, schrie Candi auf und führte ihre Hände

zum Mund, als Onkel Eiter plötzlich vor ihrem Tisch erschien, als ob er dem Erdboden entsprungen

war. Seine runden, glänzenden, roten Augen blickten aus einem geschwollenen Gesicht.

„Martin! Oh, mein Gott, oh mein Gott …!“, rief sie mehrmals, erhob sich und ging einen Schritt zurück.

„Oh, Martin!“, wiederholte sie und nahm ein Kleentex-Tuch um ihren offenen Mund zu bedecken.

„Oh, Martin, wie konntest du nur so etwas tun? Hör auf mich zu erschrecken! Warum findest du

so etwas lustig? Du siehst ja schrecklich aus. Kannst du mit den geschwollenen Augen überhaupt

etwas sehen? Du hast bestimmt furchtbare Schmerzen.“

In solchem Gesundheitszustand unerwartet vor ihr zu erscheinen, konnte Candi nur verwundern.

Gewöhnlich rief so etwas bei ihr eine bestimmte Reaktion hervor, und diesmal traten noch

Abscheu und Empathie zu dem Gefühl hinzu. „Wie bist du hergekommen? Ich meine …“ Sie

schluckte vernehmbar. „Martin, wie bist du zu meinem Tisch gelangt, ohne dass ich es bemerkt

habe?“

Martin nuschelte etwas Unverständliches, als er sich in die Nase kniff, schnaubte und formte die

Nasenkrümel zu kleinen Kugeln. Sie schüttelte den Kopf und zog vor Abscheu ihre Wangen herunter.

Martins Augen wurden feucht und winzige Tränen rannen über sein Gesicht.

„Oh, Gott, Martin! Deine Nase blutet ja.“ Nervös reichte sie ihm Tempotaschentücher. Er nahm

die zusammengeknüllten Tücher und tupfte damit deine Nase ab.

Candy empfand Mitleid mit dem bejammernswerten Onkel Eiter. Ungeheuere Sympathie überkam

sie plötzlich und sie küsste eine ihrer Hände und legte sie sanft auf die Naht von Martins schmerzender

moderner Frisur. Er liess Candis Tröstung geschehen, zuckte aber kurz vor Schmerz zurück

und lächelte sein Leukotomielächeln. Er stellte vor sie eine Gebäckschachtel auf den Tisch.

„Martin, ist alles in Ordnung? Hast du Donuts gekauft?“, fragte sie provokativ.

„Mr. Cole sagte … jeder Zeit … mal sehen.“

„Aber du fängst wenigstens nicht in einem Monat wieder an, nach deinem Aussehen nicht vor

Ende des Jahres. Du siehst nicht gerade gut aus.“

„Ja, also ich sehe schlechter aus, als ich mich fühle.“

„Das kannst du wohl sagen.“ Martin lachte und Candi lachte in sich hinein. „Sag mal, welche

Tabletten nimmst du? Diese Schnitt …“, sagte sie, wobei sie auf Martins Kopf zeigte, „und dein Gesicht,

die müssen ja wehtun.“

„Das erinnert mich daran eine Schmerztablette zu nehmen.“ Er griff in seine Manteltasche. „Öffne

die Schachtel und sieh mal nach, was für Donuts ich dir mitgebracht habe!“

„Ich dachte, du würdest von Gebäckschachteln traumatisiert. Die Gier nach Süssigkeiten kann

jede Furcht überwinden.“ Sie hob den Deckel ab. „Oh, sieh mal, ein kleiner plüschiger für mich!“

„Ich habe viele Sorten gekauft: Bismarck, Kuchen, mit Zuckerguss, Kokos, gezuckert und mit Gelee

gefüllt, mein Lieblingsdonut.“

„Ich weiss.“

„Weiss was?“

„Zu sehen an deinem Kleidungsstil. Du bist ein Geleetyp.“

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Martin dachte, Candy spiele auf seine neue Betriebskleidung an. Er fühlte sich heute tatsächlich

sehr farbenprächtig in seinem weissen Hemd, seinen braunen Hosen und der orangefarbenen Jacke.

Die schwarzen Markenlederschuhe spiegelten das Neonlicht des Büros wider.

„Brüh dir eine Tasse Kaffee! Ich hab’ schon eine.“

„Entschuldigung wegen der Tasse, Schätzchen.“

„Ja, zu blöd.“ Sie zuckte zusammen, als sie sich an ihr Ende erinnerte. „Ich zog diese Delta-Stints-

Tasse weg, die mir irgendwann geschenkt worden war.“ Es klingelte und Candi ärgerte sich über die

Störung.

„Martin, warte in der Kantine!“, forderte sie und zeigte auf die grauen Schwingtüren am Ende des

mit grauem Teppichboden ausgelegten, neonhellen Korridors, „und nimm die Gebäckschachtel mit!“

Sie schob sie ihm rüber. „Ich werde dich dort treffen.“, sagte sie und antwortete auf den Anruf.

Eine lange Pause folgte und Candi grüsste nochmals.

„Mr. Thorndorn?“, sagte die Stimme.

„Nein, es tut mir leid. Mr. Thorndorn ist gerade abwesend. Soll ich ihm etwas ausrichten?“ Bevor

Candi ihren Satz beenden konnte, legte der Anrufer auf.

Verdutzt und etwas erschrocken halbierte sie ihren Kokosdonut und tauchte ihn in den Kaffee.

Martin stampfte auf dem Fussboden auf, damit Luft in die Plastikflache hineinströmte, erregte ihre

Aufmerksamkeit, und sie starrte ihn wütend an.

Martin schaute sie überrascht an. „Ich brauche Wasser um die Tablette hinunter zu spülen.“

„Martin, hör auf mit dem Wasserkühler zu spielen!“

„Mister Griess,“, fragte Mr. Thorndorn beim Betreten der Eingangshalle, „was führt Sie hierher?“

„Mister …“, damit sprang Martin ein und drehte sich um zur Begrüssung von Mr. Thorndorn.

„Ich dachte, Sie würden sich erholen. Mensch, Sie sehen aber nicht gut aus.“ Mr. Thorndorn ging

auf Martin zu und gab ihm die Hand.

„Ich dachte mal vorbei zu schauen und ‚Guten Tag!‘ zu sagen. Ihnen und Ihren Kollegen habe ich

Donuts mitgebracht.“ Er zeigte auf die Gebäckschachtel auf Candis Tisch.

„Es ist gut dich wieder in Aktion zu sehen.“ Er wandte sich Candi zu. „Sorge dafür, dass dieser

Mann sich wie zu Hause fühlt. Er klopfte Martin auf den Rücken, bevor er sich in sein Büro begab.

„Ich muss einige Telefongespräche führen. Gibt es etwas Neues?“

„Ja, aber nein, eigentlich nicht, jedenfalls nichts Wichtiges“, antwortete Candi.

„Martin“, sagte Mr. Thorndorn, „Candi wird sich um Sie kümmern. Fragen Sie sie, wenn Sie etwas

benötigen!“

Candi rief schon Jim Cole an. Sie vermutete, er werde Zeit haben Martin durch die Fabrik zu führen.

„Martin, bleiben Sie, wo Sie stehen! Ich rufe Mr. Cole an und werde ihn fragen, ob er mit Ihnen

einen Rundgang durch das Fabrikgelände unternehmen kann. Holen Sie sich eine Tasse Kaffee!“

Martin nahm seine Tabletten aus der Manteltasche, blieb am Wasserkühler stehen, wartete geduldig

und versuchte die Kindersicherung von der Flasche zu entfernen. Mittlerweile hielt Candi ihre

Stellung in der Bürozentrale und beobachtete Martin streng aus Furcht, dass er sich wieder heranschleichen

würde.

„Candi, ich bin hier.“ Jim kam den Korridor entlang aus seinem Büro und ging auf sie zu.

„Hallo, Jim.“ Sie war überrascht, dass er so rasch auf ihren Hilferuf reagiert hatte. „Mr. Thorndorn

bittet Sie unseren neuen Angestellten durch die Fabrik zu geleiten.“ Sie deutete auf Martin, der eine

Pille einwarf und einen Schluck aus einem winzigen Pappbecher nahm.

„Martin?“

Jim wandte sich Martin zu und war schockiert über das, was er sah. „Martin Griess.“ Er kam

langsam näher um ihm die Hand zu schütteln. „Weshalb sind Sie hier? Ich dachte …“, er suchte nach

Worten, „ich dachte, sie würden sich ausruhen nach all dem, was Ihnen zugestossen ist. Es tut mir

leid, dass ich Sie mit der Tasse getroffen habe.“

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„Ach, Sie waren das.“ Er warf den Pappbecher in den Abfallkorb und berührte leicht seinen Kopf.

„Wie ist das eigentlich passiert?“

„Das weiss ich auch nicht so genau; denn es ging ja alles so schnell. Ich würde ohnmächtig, als ich

mit Ihnen zusammengestossen bin. Wir müssen Candi fragen. Ich glaube, sie hat alles gesehen.“

„Moment mal. Ich kenne Sie von irgendwoher.“ Martin wurde plötzlich klar, wo er diesen Mann

schon einmal gesehen hatte. „Haben Sie nicht einen Eiswagen gefahren?“

Durch die seltsame Frage verblüfft, zögerte Jim Cole und schaute Martin misstrauisch an, bevor er

antwortete: „Ja, woher wissen Sie das? Das ist ja schon sehr lange her.“

„Erinnern Sie sich an einen kleinen Hund, den Sie überfahren haben!“

„Ich habe in meinem Leben schon mehrere Hunde überfahren!“

„Das war vor langer Zeit.“ Er beugte sich und zeigte die Entfernung vom Boden aus an, um dem

ehemaligen Eishändler einen Eindruck davon zu vermitteln, wie gross sein Hund wäre, wenn er noch

lebte. „Ein Pudel, der alles ankläffen würde, was sich bewegt.“

Das Telefon läutete und Candi antwortete mit der üblichen Betriebsbegrüssung. „Ja, Mr. Thorndorn

ist da. Ich verbinde.“

„Ja, ich glaube mich vage zu erinnern. Danach war ich beim Militär, dann an der Uni, jobbte, heiratete,

kaufte ein Haus und hatte Kinder.“

In Windeseile öffnete Mr. Thorndorn seine Bürotür und rief Candi zu: „In der Kantine ist eine

Bombe abgestellt worden. Sie soll in der Vormittagspause explodieren. Lassen Sie alle das Gebäude verlassen!“

Er blickte dabei auf seine Armbanduhr.

„Nicht schon wieder eine Bombedrohung!“, jammerte Candi und rief mürrisch die Polizei an. Ihr

war bewusst, dass Martin und Jim sich auf dem Weg zur Bürokantine befanden.

„Jim, gehen Sie nicht hinein! Ich meine, lassen Sie alle sofort rauskommen!“ „Dort soll eine Bombe

sein“, rief Mr. Thorndorn.

„Martin“, sagte Jim und drehte sich um. „Wieder eine Bombendrohung!“ Er klopfte ihm auf die

Schultern. „Sei so nett und fordere die Leute in der Kantine auf diese sofort zu verlassen. Ich werde

alle in den Büros informieren.“

Martin tat das. „Hier soll eine Bombe sein. Kommen Sie alle sofort raus!“

Etwa ein halbes Dutzend Büroangestellte, die sich während der Pause dort aufhielten, waren

mehr entrüstet über Martins Erscheinen als durch die Warnung verängstigt. Martin wiederholte

seine Aufforderung, ging durch den Korridor zurück und informierte sie darüber, dass die Leute

nicht reagiert hätten. Jim hörte das und wurde aktiv. Er rannte durch den Korridor zurück und

bekräftige Martins Aufforderung. Die verärgerten Angestellten unterbrachen ihre Mahlzeit und

begaben sich langsam in die Eingangshalle. Während sie herumwuselten, teilte Candi ihnen mit,

dass das Bombenentschärfungskommando unterwegs sei und sie dann warten müssten, bis das

Gelände durchsucht worden sei. Viele hielten das für überflüssig, weil es ja nicht das erste Mal war.

Aber Candi beruhigte sie, indem sie ihnen Donuts anbot. Es sprach sich herum, dass Martin ihnen

die Donuts mitgebracht hatte, und bald klopfte man ihm auf den Rücken und lobte ihn den Tag

gerettet zu haben. Martin schnaubte vor Stolz und seine Nase begann zu bluten. Candi bemerkte

ein Klingeln im Kopfhörer und antwortete.

„Miss Powers? Hier sprich Mike Mueller von FCT. Haben Sie vielleicht etwas Zeit? Ich möchte von

Ihnen etwas über die Gala erfahren. Während einer Pause könnte ich vorbeikommen …“

Eine plötzliche starke Explosion und das darauf folgende Zerspringen von Gläsern und Tellern

lähmten die Kantinenangestellten, als ein Küchenschrank zerbarst. Dann ergriff sie Panik und sie

stürzten so schnell wie möglich zum Ausgang. Der Anblick von Martins blutender Nase verstärkte

noch ihren Drang zu fliehen. Jeder hetzte nach draussen und das gewaltige Drücken trieb die Menge

hinaus.

„Hallo, Miss Powers?

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Candi war noch am ihrem Arbeitstisch, verblüfft, dass sie noch dort stand. „In der Küche ist eine

Bombe explodiert, die Menschen fliehen aus dem Gebäude“, sprach sie mit versagender Stimme und

sie sah, wie sich alle aus dem Staube machten.

„Alles in Ordnung mit Ihnen?“

„Ja.“

„Dann Schätzchen, hauen Sie auch sofort ab!“





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