23. himmel und hölle

 23. himmel und hölle


„Halt.“ Sie setzte ihre Sonnenbrille ab um den ehemaligen Strafgefangenen besser sehen zu können,

mit dem sie gerade ein Gespräch angeknüpft hatte und der gerade Sonnenbräune-Lotion in ihre Beine

einmassierte.

„Ja. Weisst du, im Gefängnis, da drang von aussen diese Aufregung hinein. Man konnte sie durch

die verschlossene Tür hören, so dass es tatsächlich sehr laut gewesen sein musste. Roy, so heisst der

grosse Typ, nahm sie zuerst wahr. Er signalisierte mir nur, den Mund zu halten, weil ich weiterhin

mit dem Fundamentalisten plauderte.“

„Wir begannen zuzuhören. Telefone klingelten, Türen wurden geöffnet und geschlossen. Sogar

Don Juan hörte kurz auf zu weinen. Man konnte diese ganze Unterhaltung verfolgen. Leute stellten

Fragen, und dann rief jemand laut: ‚Leutnant Miles! Leutnant Miles!‘ Bald hörte man nur noch Sirenen

und aufheulende und abfahrende Autos.“

„Kannst du das andere Bein massieren?“ Sie steckte Micky ihr linkes Bein zum Einölen hin. Aus

einem WG-Zimmer drang das Geräusch einer Talkshow-Sendung an ihr Ohr.

„Fühlt sich das gut an?“ Micky lehnte sich zurück und ölte das vernachlässigte Bein ein.

„Mm, grossartig.“ Sie schüttelte ihren linken Fuss. „Fahre fort! Ich hör’ dir zu.“

„Nun, plötzlich wurde die nach aussen verriegelte Tür geöffnet. In dem ganzen Zellentrakt trat

Todesstille ein. Jeder hörte gebannt zu. Als die Tür geöffnet wurde, konnte man zuerst nichts sehen.

Alles war lichtüberspült, wohl wegen der Fernsehkameras.

„Zwei Polizisten kamen herein und öffneten die Tür zum Seelenraum, dem Zimmer, über das ich

schon berichtet habe. Zwei andere Polizisten bewachten die Haupttür. Menschen riefen, dankten und

stellten Fragen wie zum Beispiel ‚Leutnant Miles, ist es wahr, dass sie auf dem Weg nach Mexiko war?‘

und ‚Sind noch weitere Leichen gefunden worden?‘ Dann kommt urplötzlich diese kleine alte Frau

herein. Sie ist weiss wie ein weisses Laken mit rot umrandeten Augen und trägt ein schmutziges,

grünes Hauskleid. Sie erscheint mitten in diesem Durcheinander und Rummel, begleitet von zwei

weiteren Polizeioffizieren, und geht in den Superentbindungsraum.

„Oh Gott! Das ist nicht dein Ernst. Du warst dort, als sie Dorothea Puente hereinbrachten? Dorothea

Puente, die Massenmörderin, die Frau, die all die alten Männer tötete, die ihre Mieter waren. Ich

kann’s nicht glauben.“ Sie setzte schnell ihre Fliegenaugen-Brille ab.

„Ja, und ausserdem habe ich sogar für das Biest gearbeitet.“

„Nein!“

„Ja, kein Quatsch! Aber dazu später.“ Micky wusste, dass er sie hinter Schloss und Riegel hatte.

Sie konnte nicht warten, bis sie die aufregende Vorgeschichte erfuhr und dachte, dass die gesamte

Geschichte wirklich wahr wäre.

„Nun, warte einen Moment! Du bist im Knast, weil du es so wolltest und wie du sagtest, hast du für

Dorothea Puente gearbeitet? Ich hab’ noch eine Frage.“ Sie hielt inne. „Bist du nicht so etwas wie ein

Komplize? Bist du nicht Gehilfe und Unterstützer? Ich glaub’, man nennt das so.“

„Darüber müsste man nachdenken. Ich bin ein Neo-Errorist. Ich denke, das ist das richtige

Wort.“

„Was?“ Sie setzt ihre Sonnenbrille wieder auf.

„Macht nichts. Du würdest es sowieso nicht verstehen. Zurück zur Geschichte. Nun wurde alle

fünf Minuten die grosse Tür aufgeschlossen und sie liessen jemanden herein oder heraus. Das ging

die ganze Nacht so weiter, und wir konnten keinen Schlaf finden bei all demLärm. Ausserdem sagte

niemand, was los war, und selbst mir war’s erst klar, als ich hinausging und ihr Bild in der Zeitung

‚Sacramento Bee‘ gesehen habe.“


„Es ist komisch, wenn du darüber nachdenkst. Hier war ich nun in unmittelbarer Nähe des Schauplatzes

und hatte keine Ahnung. Kann man das noch überbieten? Ausserdem, bei all dem Trubel wunderten

wir uns allmählich, ob sie uns vergessen hätten. Doch schliesslich erinnerte sich jemand und

durfte einmal telefonieren und rief meinen Freund Denver an.“ Er zeigte wieder hinüber zu ihm. „Der

kam und erreichte mich wirklich früh am Morgen, bevor der Verkehr ins Zentrum einsetzte, und lass

es mich sagen: Es war das schönste Erlebnis in meinem Leben, aus dem Knast entlassen zu werden

und hinauszugehen in den wunderbaren Sonnenschein über Sacramento mit hohem blauem Himmel

und vielen Singvögeln.“

„Toll! Das ist eine ziemlich erstaunliche Geschichte. Nun sag’ mir, was du für Dorothea Puente

getan hast!“

„Warte einen Augenblick! Ich bin noch nicht fertig. Ich musste einige Monate später zum Gericht.“

Micky liess seine Hände tiefer in ihren Schritt gleiten, erzählte weiter und schaute sich bisweilen

selbst an durch den Blick in ihre reflektierende Sonnenbrille.

„So erzählte ich also meine Geschichte zum x-ten Mal. Damit stellte ich mir vor, wie es in der Hölle

sein müsste: eine Art von Gerichtsverfahren oder Prüfung, wobei man immer wieder dasselbe zugeben

muss. Und deine Familie und deine Freunde sehen dich, und du kannst sehen, dass sie traurig

sind und wie sie sich fragen, was sie falsch gemacht haben.“

„Also, haben sie dich mit Gefängnis bestraft?“

„Nein. Ich musste Gemeinschaftsarbeit verrichten und an die Obdachlosen Essen verteilen. Nun,

ist das nichts? Roy geht ins Gefängnis, weil er die Obdachlosen mit Verpflegung versorgt und ich

komme heraus um sie zu füttern“, sagte er, während er das haarlose Wunder von Miss Californias

Oberschenkeln innen mit seinen Daumen liebkoste. Urplötzlich schoss ein quälender Schmerz durch

sein rechtes Knie, verursacht durch die kieselartige Textur der Oberfläche unter seinen Knien. Er torkelte

vorwärts und wankte auf Miss California zu. Der Liegestuhl brach zusammen und sie fanden

sich beide in einer misslichen Rutschlage.

Die gesamte Badegesellschaft, einschliesslich der Kinder, Grossmütter und Pensionäre, ausser

Denver, der auf der Höhe der tiefsten Stelle des Beckens fest schlief, drehte sich um in Richtung des

Lärms.

Micky richtete sich rasch auf, verlor aber das Gleichgewicht und stolperte rückw.rts, fiel ins Wasser

und zog die in der Nähe stehende korpulente, lahme Meeresnacktschnecke mit ihrem Hula-Hula-

Reifen mit sich.

Mutter Nacktschnecke mit den dazu passenden Beinen riss sich von ihrem Neugeborenen los und

warf es vorsichtig in den Korb. Durch das Eintauchen dieses Schwergewichts wurden Micky und die

schaukelnde Meeresnacktschnecke auf die Kieselbetonplatte geworfen. Micky landete am Beckenrand.

„Hoppla!“, sagte er, spuckte Wasser und streichelte den Kopf des Kindes, bevor die Mutter es rettete.

„Ist alles in Ordnung?“ Sie war damit beschäftigt, das Jammern über den Schock zu mildern, das

aus dem schreienden Unipod-Bündel zu hören war.

„Sieh! Es tut mir Leid. Es war ein Unfall.“ Micky schlug hilflos mit seiner linken flachen Hand auf

die Wasseroberfläche.

„Hey, wie? Ist alles in Ordnung?“, fragte Miss California mit ihrem typischen Akzent. Sie stand

auf und ging auf Micky zu. „He, ich hab’ dich doch nicht verletzt, oder? Was ist passiert?“

„Ich weiss es nicht, Mensch. Fucking A…! Ich verspürte einen stechenden Schmerz in meinem

Bein und er durchzuckte meinen Körper wie ein höllischer Lichtstrahl.“

Micky zog sich aus dem Becken heraus und legte sich mit dem Bauch nach oben und komplett

angezogen auf den Beton. Er schloss die Augen und ruhte sich einen Moment aus. Als er einen Schatten

über sich bemerkte, öffnete er die Augen und sah von unten Miss Californias Gesicht.


Sie schauten einander an, zuerst fragend und triumphierend.

Sie fragte kokett: „Möchtest du, äh, hast du eine Badehose?“

„Nein“, gab er zu und lächelte.

„Wir können deine Sachen bei mir in den Trockner werfen. Los! Bist du hungrig?“, fragte sie.

„Nö!“ Er richtete sich in Sitzstellung auf. „He, warte ’nen Augenblick! Ich glaub’, meine Sonnenbrille

liegt noch auf dem Beckenboden.“ Er erhob sich um in die Vorortlagune zu schauen.

„Nein, sie ist hier“, sagte sie und er gab Micky sein Markenbrillen-Imitat. „Das Kind hatte es. Es

landete auf dem aufblasbaren Donut-Dingens, das er trug.“

„Danke.“ Er nahm die Brille und setze sie wieder auf. „Sag’ mal! Willst du noch immer wissen,

wie man aus einem Apfel eine Bong-Pfeife bastelt?“ Er lächelte und fühlte, wie ein Siegesrausch seine

Lenden durchströmte.

„Was?“ Dann er erinnerte sie sich: „Oh ja, das hast du im Knast gelernt. Was ich wirklich wissen

möchte, ist: Was hast du für diese Puente getan?“

„Geil!“, dachte Micky „Bald werden meine Anakonda und deine Pudenda sich vereinigen.“

„Yahoo!“, schrie er heraus und wendete sich dem noch schlafenden Denver zu, der wohl zu einer

Schwarte zerbröselt sein musste.

„Yahoo, was?“, fragte sie und verstaute ihre Badesachen in ihrer ‚Wellington‘-Tasche. Sie nahm die

‚Sutters Weekly‘ und wedelte mit der Boulevard-Zeitung vor ihm herum. „Was dagegen, wenn ich die

behalte?“, fragte sie und legte ihm ihr GAP-Handtuch hin.

Micky unterbrach die Untersuchung seines Knies, blickte auf und nickte zustimmend.

„Alien Space Shit? Sehr lustig“, brachte sie gedehnt hervor und kicherte gekünstelt.

„Gier, und Profit.“ Er erhob sich, wickelte sich das Handtuch um, sammelte seine Sachen zusammen,

liess aber sein orangefarbenes Badetuch liegen als Erinnerungszeichen für Denver, dass er das

Gelände noch nicht verlassen hatte.

„Was?“ Sie lief los.

„Gay and proud!“

„Wovon redest du?“

„Girls are pretty. Dein Handtuch. Guys are pigs.“

„Du bist ziemlich witzig. He! Ich sollte dich warnen. Ich habe einen Hund …“Sie drehte sich um,

um ihren Satz zu beenden, „He, was hast du da in der Hand?“

„Einen Knallkörper!“ Er warf ihn in ihre Richtung.

„Ach, du lieber Himmel!“

„Nein. Viva Las Vegas!“




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