29. lesben manipulieren

 29. lesben manipulieren

Lisa sass am Küchentisch, ordnete ihre Gedanken und bereitete sich auf einen weiteren schriftlichen

Angriff auf die Gesellschaft durch subtile und verschlüsselte Propaganda vor. Ein Essay darüber, weshalb

sie gern stahl, wurde zurückgestellt, da sie ihn für den Geschmack des breiten Publikums nicht

verdaubar hielt. Er handelte von Ladendieben, die sich vereinigt hatten um ihre Sorge bezüglich

aktueller Themen wie Globalisierung, Arbeitnehmerrechte, Wirtschaftsdividende, Gennahrungsmittel

und des Rechts zu feiern, damit Unternehmer motiviert würden soziale Fragen zu lösen.

Du bist eine Lesbierin, schrieb sie auf ein Stück Papier. In dieser durch Männer dominierten

Gesellschaft gehörst du zu denen, die beraubt und vergewaltigt werden, zerkaut und ausgespuckt,

gebraucht und missbraucht werden. Sie stampfte mit einem Fuss auf dem Holzboden auf, als sie das

Niedergeschriebene laut las. Es besass all die Spontaneität, den Schwung und die Eigensinnigkeit

einer Frau; aber das war nicht der Punkt, den sie in dem täglichen Schwulst treffen wollte.

Das Sonnenlicht strahlte durch die Blätter des Liquidamber-Baums in ihr kürzlich erworbenes

Appartement. Es schien ein weiterer herrlicher Tag zu werden. Sie überflog die Liste der zu erledigenden

Besorgungen, entschloss sich aber in der Küche zu bleiben und einen Joint zu rauchen. Sie

seufzte hochzufrieden und holte ihre Kleidung, die auf ihrem Nachttisch lag. Wie sie bemerkte, war

der Rasensprenger nicht abgestellt worden, so dass dieser den gerade erst bepflanzten Blumengarten

ihres Nachbarn zu überschwemmen drohte. Nur leicht bekleidet rannte sie hinaus um ihn abzustellen

und sang ein Lied, das sie kurz zuvor verfasst hatte:


Lesbierinnen,

wir sind ein Geschenk.

Die Überbevölkerung

verhindern wir.

Ich bin das New Age

und feuere euch an.

Es bedarf des Mutes

das Gute zu tun.

Reiht euch an,

jede muss ran.

Lesben vereint

gegen den Feind.


Sie sang den Text zu einer Volksmelodie im Dreivierteltakt, der ideal war für intensive, aber unbewusste

Aktionen wie die gerade erfolgte. Während sie die umgebende Schönheit genoss, beschloss sie vor

der Veranda zu sitzen und die Strassen Sacramentos vor ihrem inneren Auge vorbeiziehen zu lassen.

„Das Leben ist schön“, sagte sie und kehrte zurück zur Veranda mit einer Tasse Kaffee und einem

Joint. Sie atmete tief ein und setzte sich vorsichtig in einen klapprigen Ledersessel mit an gefährlichen

Stellen durchgestossenen Federn. Sie zündete den Joint an und beobachtete, wie ein weiss gekleideter

Mann mittleren Alters und ein Obdachloser, der einen Einkaufswagen vor sich her schob, aus verschiedenen

Richtungen aufeinander zu steuerten. Sie nickte und lächelte, sagte ‚Guten Tag‘ zu den

Mitbewohnern des Stadtteils Grid, die vor ihrer Wohnung die Strasse überquerten.

Ich bin ein Geschenk der Göttin und so glücklich in Sacramento zu leben, dachte sie. Mittelmeerklima,

ein angenehmer Lebensstandard, ursprüngliche Natur, Flüsse, in der Nähe den Pazifischen


Ozeans und die Sierra Nevada, keine Erdbeben, Schlammlawinen oder Tornados. Gute, frische Nahrungsmittel,

und wenn man sich dafür entscheidet, für den Staat zu arbeiten, Dauerbeschäftigung.

Das Paradies hatte auch Einkaufszentren, das kulturell uninteressierte Publikum und eine hohe Sterberate

wegen der Langeweile. Was könnte man sich noch wünschen? Sie zögerte einen Augenblick.

Aber Paradies für wen? Weisst du …, setzte sich ihr Monolog fort, während sie den Obdachlosen beobachtete,

der im Schatten einer Dattelpalme stehen geblieben war und seine Taschen durchsuchte.

Es gibt so viel Mist überall: den Mist der Menschheit; die Judisten, die Islamisten, die Christen,

die Hindus, die Buddhisten und all ihre jeweiligen Fundamentalisten, die Konservativen, die Rechtsradikalen,

das Militär, die Medien und als Klops in der Mitte die Ultrareichen. Ich glaube nicht mehr

an all die Lügen. Es wird Zeit, dass sie alle lernen ihre Arschlöcher zu reinigen und nicht mehr überall

auf der Mutter Erde ihren Darm entleeren. Ihre blöden Probleme langweilen mich. Mutter!, rief

sie im Geist und schaute hoch in den blauen Himmel. Mit ihrem Bic zündete sie den Joint wieder an

und atmete tief. Vielleicht soll jemand sie daran erinnern, dass sie auch eine Muschi haben. Eine

Schlussfolgerung kam ihr in den Sinn: Wenn der Mensch die Religion erschafft und die Religion den

Krieg, dann ist der Mensch Krieg.

„Weg mit dem Patriarchen!“, sprach sie und liess den Rauch langsam ihrer Lunge entweichen. Sie

verstand völlig, weshalb ihre militanten Schwestern alles boykottierten, was mit dem männlichen Teil

der Gesellschaft zu tun hatte. Sie stützte ihre Füsse an dem Geländer ab und konzentrierte sich auf den

Obdachlosen, der sich gemächlich der Veranda näherte.

Sie nahm einen weiteren Zug und dachte an die Vergangenheit, wobei sie sich erinnerte, wie ihre

Mutter ihr beigebracht hatte sich abzuwischen und – als besonders wichtig – von vorn nach hinten

zu wischen um Ansteckungen zu vermeiden. Sie hatte sie auch informiert über geheime europäische

Methoden bei Menstrualkrämpfen und bei der Geburtenkontrolle. Lisa malte ihre Kindheit in leuchtenden

Farben und schätzte es sehr einer grundsoliden Familie zu entstammen. Diese hatte ihr die

innere Stärke verliehen sich in einem männlichen Umfeld zu behaupten, als ihre Hormone einen

alternativen Weg in ihrer sexuellen Entwicklung einschlugen. Anstatt bei Jungen in Verzückung zu

geraten und sich um Verabredungen zum Sock-Hop-Tanz zu sorgen, verliebte sie sich in die Mädchen,

mit denen sie gemeinsam duschte. Zum Glück war sie mit Jungmädchenliebe zufrieden, bis

sie den Besuch der Sekundarschule beendet hatte und in eine Wohngemeinschaft im Valley gezogen

war, um matriarchale Politik auf natürliche Art zu studieren.

Sie erinnerte sich an ihre Kindheit vor dem Unfall als eine Zeit der Unschuld und Freude: ein hübsches,

frisches und munteres kleines Mädchen mit braunen Locken, das mit seinem Grossvater

spielte. Sie dachte an gemeinsame ausgedehnte Spaziergänge, wenn sie beide begeistert etwas Neues

im Park oder in Wohnnähe entdeckt hatten oder wie etwas durch die Luft flog. Von ihm hatte sie gelernt

alle Lebewesen zu achten und ihre Stellung in der sie umgebenden Natur.

Sein Tod kam für niemanden überraschend. Er war alt und schon längere Zeit krank. Die Grabstelle

war schon gekauft worden. Nun standen noch Begräbnis und die Beileidsbekundungen bevor.

Die Familie hatte Lisa einer Nachbarin, die sie oft als Babysitterin beansprucht hatten, zur Betreuung

übergeben und in den Kombiwagen einsteigen lassen. Kurz hatte sie sich vorgestellt, was anders gewesen

wäre, wenn sie an der Beerdigung teilgenommen hätte.

Sie war nicht sehr darauf erpicht, zu den Powers gebracht zu werden. In deren Haus roch es seltsam

und sämtliche M.belstücke waren mit Plastikbahnen bedeckt. Vor der Plastiktoilettenbrille im

Bad fürchtete sie sich und deshalb zögerte sie oft lange sie zu benutzen, wenn ihre Blase es zuliess,

falls aber nicht stahl sie sich gewöhnlich in den Garten um sie dort zu entleeren.

Zu der Zeit hatten sich die Powers wieder der Natur zugewandt und waren auf dem Ökotrip. Ihre

letzte Errungenschaft stellten die Müsli-Kekse dar, die sie beim Besuch ihrer Nachbarn verteilten. Sie

nahmen an, dass alle diese Kekse schätzen und so bot man Lisa sofort nach ihrer Ankunft einen davon

an. Sie kaute dann auf dem harten Korn herum um seine feste Struktur aufzubrechen und wollte ihn


in das Lüftungsloch der Klimaanlage spucken. Leider konnte dieser Plan nicht ausgeführt werden,

als das Haus nach eben dem Produkt, das sie loswerden wollte, zu riechen begann.

Candi, die sich um sie kümmerte, hatte ihr Haar rot gefärbt. Sie tauchte aus dem Badezimmer auf

und überraschte Lisa, die sie mit ihren Keksen allein gelassen hatte. „Deine Eltern sind wieder da.“,

sagte man zu Lisa Pisa, die bald zum Krüppel werden würde, und „Los, geh’ schon!“

Sie erinnerte sich daran, wie sie über die Strasse stürzte und das Galaxy 500 direkt mit ihr zusammen

stiess, und an das Entsetzen und die Blicke der Menschen, als sie schreiend dalag, und den

Schrecken in Candis Gesicht, die Rufe und Schreie aus jeder Richtung, ihren Herzschlag und unverständliche

Laute. Mutter und Vater sagten, dass sie sich nach dem Unfall verändert hätte. Sie war

körperlich behindert. Ihr rechtes Bein war völlig verformt. Die Ärzte waren freundlich und boten ihr

immer Happy Pops an; aber das trug nichts zur Besserung ihrer körperlichen Veränderung bei. Noch

jahrelang musste sie chirurgisch und physiotherapeutisch behandelt werden, um ihr Bein wieder ausstrecken

zu können. Candis Schuld blieb unverzeihlich und sie versuchte alles wieder gut zu machen,

indem sie ihr die schrecklichen Müslikekse schenkte. In diesen Jahren intensiver Behandlung entdeckte

sie ihre Fähigkeit zur Manipulation.

In der Reha traf sie eine Cousine, die an der Tankstelle ihres Vaters Opfer eines bewaffneten Raubüberfalls

geworden war. Während sie sich ihr Lieblingsgetränk aussuchte, leerten die Verbrecher die

Kasse. Als sie flüchteten, schossen sie kurz in die Luft um Schrecken zu erregen und jeden Gedanken

an Verfolgung zu vertreiben. Ein Schuss durchschlug das durchsichtige Glas des Kühlraums, in

dem die kleine Sally stand. Viele Glassplitter trafen sie, zerstörten Sehnen und drangen in die Hornhaut

ihres linken Auges ein.

Lisa Pisa war glücklich eine Spielgefährtin in dem Reha-Zentum zu haben, eine Freundin und

Vertraute. Wegen der ernsten Verletzungen blieb Sally dort, wogegen Lisa es nur an Wochentagen in

Anspruch nahm. In Sallys Zimmer waren mehr Spielsachen, als Lisa je gesehen hatte: sehr viele

Plüschtiere, elektrisches Kinderspielzeug und alles erdenklich Interessante für kleine Mädchen. Am

meisten begeistert war sie von einer sprechenden Puppe. Aber Sally, obwohl behindert, war kleinlich.

Sie sagte, sie wollte nicht, dass Lisa ihre Chatty Cathy mit Speichel beschmutzte.

Oft sah Lisa neidisch zu, wie Sally mit der Puppe sprach, die auch noch als Telephon, Play Station

und Lexikon diente.

Lisa dachte zunächst, sie könnte auch durch Telepathie in ihr Inneres eindringen. Stundenlang

hoffte sie, die Puppe würde plötzlich aufwachen und mit ihr reden. Im Fernsehen hatte sie so etwas

gesehen, und schloss daraus, das würde sich überall ereignen, wenn man es sich nur fest genug

wünschte.

Doch wurde Chatty Cathy nur dann lebendig, wenn sie Sallys Stimme vernahm. Obwohl Lisa an

ihren Teepartys teilnehmen durfte, konnte sie sich niemals direkt mit der Puppe unterhalten. Ein

neues, raffiniertes System war nötig, so dass die Besitzerin ihr Gesicht wahren konnte und nur wenig

aufgeben musste. In den folgenden Wochen und Monaten verfeinerte Lisa ihre sozialen Fähigkeiten

und erkannte Sallys Egoismus genauer. Später wandte sie die Methoden Rollenspiel und Schmeichelei

an. Nach einigen Monaten besass sie den Code mit Chatty Cathy zu sprechen, durfte mit sämtlichen

Sachen spielen und auch ihr Speichel war nicht mehr anstössig. Innerhalb eines Jahres hatte Lisa

Sally von einer negativen Eigenschaft befreit.

„Siehst du diese Münze?“, fragte der Penner gezielt und beachtete jedes seiner Worte. Als sie über

ihre frühe Kindheit nachgedacht hatte, hatte sie beobachtet, wie er gemächlich über den Betonweg

auf die Veranda zukam. Sorgfältig durchsuchte er seine vielen Taschen um einen glänzenden Penny

hervorzukramen, den er Lisa dann zwischen überlangen, gelblichen Fingernägeln darbot. „Eine Frau

hat ihn mir geschenkt, ich habe ihn verschluckt und erst nach drei Tagen hat er meinen Körper wieder

verlassen.

Lisa lächelte. „Oh, ist das wirklich wahr?“


„Sag mal, hast du nicht vielleicht auch einen für mich?“ Lisa kam aus dem Haus zurück mit mehreren

25-Cent-Münzen und gab sie ihm. „Schlucken Sie sie aber nicht! Lassen Sie sie unter Menschen

kreisen und nicht im Körper!“ Er nahm das Geld und steckte es in eine Tasche seines schmutzigen

Jeans-Overalls.

„Übrigens, kann ich dafür den Penny bekommen?“

Der Penner lächelte breit und zeigte dabei seine vergilbten Zähne. Seine Augen glitzerten schelmisch,

als er ihr langsam den Penny überreichte. „Der ist jetzt ein Glückspenny.“

„Ganz bestimmt. Danke!“

„Einen schönen Tag noch“, fügte er hinzu und trottete davon. Lisa setzte sich auf die Stufen des

viktorianischen Gebäudes, hörte das Holpern des Einkaufswagens, der den Gehweg entlang geschoben

wurde, nahm einen Schluck Kaffee und begann zu schreiben.





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