33. kunst oder begünstigung

 33. kunst oder begünstigung

Selbst in seiner beschränkten Umgebung, meinte er, wollten sie noch mehr. Micky war gerade aus

einem schlechten Traum erwacht, in dem brennendes Brot eine schreckliche Herpeswunde auf der linken

Seite seiner Oberlippe Schmerzen verursachte. Er lag auf dem Rücksitz des Galaxy 500 und dachte

über verschiedene Alternativen nach. Um in die Klinik zu gehen, fehlte ihm das Geld.

Ich habe nicht darum gebeten geboren zu werden, dachte er. Kein Wunder, dass manchen Menschen

ihr Leben nichts bedeutet, sie Waffen tragen und alles, was sich bewegt, niederknallen. Die Gesellschaft

sollte sich um die Menschen kümmern und sie nicht als Rädchen im Getriebe der Industrie

betrachten. Wenn sie sich einen Dreck um mein Leben schert, um das ihre auch nicht, weshalb sollte

ich dann irgendjemanden respektieren? Ein Windstoss erschütterte das Auto.

Micky kannte seinen Weg als Künstler, doch hatte er nicht diese Verkrustung am Mund und den

Spott der Frauen, denen er sich näherte, verdient? Er hatte sich als talentierter A.K.N.E.-Künstler erwiesen,

als geschickt bei seinen antikonstruktivistischen, neo-erroristischen Aktionen, und er meinte,

er hätte seinen Beitrag geleistet und dass nun die Gesellschaft ihm etwas schuldete. Seine subtilen

künstlerischen Äusserungen hinterliessen bei vielen einen faden Nachgeschmack und einige wurden

von dem Publikum nie ganz verarbeitet. Wenn die Welt besser werden sollte, hatten Künstler die

Aufgabe Auslöser von Veränderung zu sein.

Er lächelte in sich hinein und wusste, dass deren Missfallen eine angemessene Kritik an seiner

gegenwärtigen Arbeit darstellte. Es erforderte Zeit um die Parodie zu verstehen, besonders wenn das

Werk so unmittelbar verständlich war, dass dem Betrachter die Ironie nicht gleich beim ersten Sehen

klar wurde. Leider würde seine Brillanz erst nach dem Studium in Akademien erkannt werden und

damit im alltäglichen Umfeld wahrscheinlich erst nach seinem Tod.

Da muss irgendwo im Universum ein Ort für mich sein, dachte Micky und blickte dabei durch das

linke Hinterfenster, wo die Kunstwerke geschätzt werden, wenn die Künstler noch leben und nicht

erst, wenn sie gestorben sind und schon verwesen. Ich bin wohl eine zu starke Bedrohung für die Lebenden

und werde in der Gegenwart verschwiegen und geopfert werden müssen, nur um später als

Held wieder zum Leben erweckt zu werden.

Er knüllte sich ein besonders weiches und parfümiertes Gesichtstuch zusammen und berührte

ganz vorsichtig die offene Wunde am Mundwinkel. Was habe ich nur getan, fragte er sich, eine solch

grosse Wunde zu bekommen? Er betrachtete den gelben Eiter auf dem Tuch. Ich habe doch in letzter

Zeit keine gefundenen Bierdosen ausgetrunken. Verdammt, ich bin wütend! Er zerknitterte es und

warf es über den Vordersitz.

Aus Mangel an sinnvoller Tätigkeit für diesen Tag seufzte er. Er wollte Denver besuchen, einen

Joint rauchen, Kaffee trinken, ein Honigbrötchen essen und reden über Kunst, Liebe, Arbeit, Menschen

und das Leben im Allgemeinen. Man würde auf der Veranda sitzen und über die Prinzipien

des Antikonstruktivismus und die neo-erroristische Kunstbewegung diskutieren und auch über die

Rolle der Kunstakademie in der Gesellschaft, dann auch über verschiedene Kommunikationsmethoden

und sich bemühen, den bizarren Charakter sozialer Codes zu verstehen und einen Aktionsplan

entwerfen um die Schlechtigkeit der Menschheit und den Mangel an schöpferischer Kraft scharf zu

kritisieren.

Da er die Zeit totschlug und pleite war, hatte Micky den Eindruck, dass sein Leben Amok gelaufen

war und nicht einmal eine Tasse Java-Kaffee sein Gemüt aufzuhellen vermochte. Er kramte im

hinteren Ablagefach herum, durchstöberte die Ansammlung leerer Pap’s-Bierdosen, zerknüllter

Beutel für Käsechips und Schokoröllchen und die Stanniolpapierverpackungen für Bonbons und zog

schliesslich sein Tagebuch hervor.


Er machte es sich bequem, indem er sich auf dem Rücksitz abstützte. Die Morgendämmerung

reichte fastzum Schreiben aus und bei zusätzlicher Unterstützung durch eine Strassenlampe in

der Nähe wurde er aktiv, schlug eine leere Seite auf, ergriff einen Bleistift und begann nach kurzer

Überlegung rasch einige Gedanken zu notieren. Die Zeit ist jenseits meiner Erkenntnis, schrieb

er. Sie schafft einfach Probleme, weil sie ihr eigenes Problem ist. Ich habe beschlossen Arbeit zu

suchen.

Micky sann über die Auswirkungen einer solchen Tätigkeit nach. Sicherlich bedeutete das: Schluss

mit seinem berühmten Bohème-Lebensstil. Geld ist ein Mittel für Macht und Unterdrückung und

somit die Wurzel allen Übels. Geld ist auch ein Mittel zum Überleben.

Einen Job anzunehmen war für ihn gleichbedeutend mit nutzlosem Verbrauch seiner kostbaren

Zeit und Verrat an seinen politischen und sonstigen Prinzipien. Er steckte den Bleistift in das Tagebuch

und schlug es zu. Veränderung lag in der Luft, als gerade ein weiterer Windstoss das Galaxy

schwanken liess. Er fing an herumliegende Gegenstände in einer Plastiktüte zu verstauen. Eine Abfalltüte

kam zur anderen und innerhalb kurzer Zeit war das Wohnmobil sauber.

„He, he, he! Was ist denn das?“ Zwischen zwei Sitzen erspürte er eine Münze. „Ich werde vielleicht

frühstücken gehen können.“ Er klappte den Sitz hoch um vielleicht weiteres zu bergen. Inmitten von

Staub fand er einen Vierteldollar, ein Zehncentstück, ein Fünfcentstück und einen neu geprägten

Cent, insgesamt 49 Cent. Dazu kamen noch die wenigen Münzen, die er schon besass. Damit konnte

er zu Slaveway gehen. Bevor er zu Denver fahren würde, würde er sich ein besonderes Frühstück

gönnen.

Er legte neue Kleidung zurecht und bereitete alles für den Tag vor. Telefonbuch und Sofortkamera

verstaute er im Rucksack. Die Abfalltüten stellte er neben den verschlossenen Industriecontainern

auf dem Parkplatz ab. Der übliche Pendleransturm hatte noch nicht begonnen. Morgendämmerung

legte sich über die Reisfelder und Vögel stimmten ihren Gesang an. Auch dieser Tag würde schön

werden.

Das Galaxy verschloss er und diesem Heim auf Rädern zum Dank klopfte er liebevoll nochmals

aus Sentimentalität auf die Motorhaube. Wenn das einmal abgeschleppt würde, wäre er wirklich

obdachlos. Er wäre dann völlig aufgeschmissen und sozial deklassiert und gefährdet straffällig zu

werden.

Letzte Nacht hatte er den Wagen an der Ecke 13. Strasse /Block B auf dem Parkplatz der Mandelfabrik

abgestellt, nicht gerade im besten Viertel des Grid; aber es war ihm keine Wahl geblieben. Das

Benzin ging zur Neige und er würde wohl für die Nacht eine andere Stelle zum Parken und Schlafen

suchen müssen.

Er schnallte den Rucksack an und machte sich auf den Weg zum etwa zwanzig Blocks entfernten

Supermarkt. Es war trübe und feucht und abwechselnd wehte der Wind kalte und warme Luftmassen

mit Nieselregen herbei: ein Tag zum Geniessen, denn nur selten zeigten sich Wolken am Himmel.

Eigentlich, dachte er, wär’s ideal einen solchen Tag im ‚Bum ’n Burn‘ zu verbringen mit Lesen, Schreiben,

Plaudern mit Koffeeinfreaks und vielleicht einen Job zu finden.

Dann wechselte er die Richtung und lief nach Osten durch die Gassen um die Rückseite der Häuser

zu sehen, an Ulmen vorbei, die gefällt werden sollten. Immer flexibel entschied er sich noch rasch

für einen Umweg zur Strassenbahnhaltestelle um von Pendlern etwas Kleingeld zu schnorren. Zwar

hatte er so früh am Morgen eine solche Performance-Aktion nicht beabsichtigt, aber als Künstler war

er ja immer kreativ. Das Leben war für ihn eine grosse neo-erroristische Aktion.

Ihm war bewusst, dass seine Herpeswunde sich als vorteilhaft erweisen würde beim Abschwatzen

von Münzen bei den nicht gerade intelligenten, aber politisch korrekten Staatsbediensteten, als

er unaggressiv bettelnd auf dem Bahnsteig sass. Er setzte seine Strickmütze auf mit einer Notiz, die

um etwas zu essen bat, und begann a capella ein generationenüberspannendes Lied zu singen.


It takes five seconds to decide

if you’re going to be like a butterfly,

five seconds of your time,

if you’re goin’ to be her’s

or goin’ to be mine.

Never goin’ to be happy again.

How am I going to get through?

Lying naked in a cage,

can’t take it, full of rage.

Like an animal in the zoo,

what am I goin’, goin’ to do?

How can I still love you

after what you put me through?

Lying naked in a cage,

looking up in the sky,

I am full, full of rage,

constantly asking why.

Want to be a butterfly

flying free at the zoo.

I want to fly, fly away

and get away, ’way from you.

I want to be a butterfly

flying free at the zoo.

I want to fly in the sky

and get away, ’way from you

’cause

butterflies are free at the zoo,

butterflies are free at the zoo,

butterflies are free at the zoo,

butterflies are free at the zoo.


Micky sang solange, bis er vom Aufsichtspersonal der Lite-Rail-Strassenbahngesellschaft abgeführt

wurde. Die Geldausbeute hatte seinen Gesamtbetrag etwa verdoppelt. Da es noch zu früh für das ‚Sunbeams’

war und er nur ungern all den Yuppies begegnen wollte beim Trinken der ersten Doppelespressos

auf ihrem Weg zum reichhaltigen Frühstück kehrte er zu seinem ursprünglichen Plan zurück.

Er durchquerte den Garten von Mrs. Gabor und schüttelte Rosenblütenbl.tter auf den Boden Sie

war eine lokale Berühmtheit im Stadtzentrum. Schon betagt und von ihrem Ehegatten verlassen improvisierte

sie oft und hielt in ihrem Haus Hof mit den Bohemiens aus der Nachbarschaft, rauchte

Haschisch und bot köstliches Gebäck an. Ihre Krebserkrankung hatte sie durch makrobiotische Diät

überwunden und die Stadtverwaltung hatte überzeugt werden können, dass ihr Grundstück sich

ausserhalb von deren Zugriffsrecht befand. Es war ein langwieriger, mühsamer Kampf gewesen. Bewohner

des Grid hatten sich organisiert und verhindert, dass Bauunternehmer ein weiteres historisches

Wahrzeichen abreissen und einen würfelf.rmigen Bürokomplex errichten würden. Manchmal

verrichtete Micky im Sommer etwas Gartenarbeit oder bemalte die Mauer am Gehweg mit Kreidebildern.

Dafür erhielt er dann von Mrs. Gabor ein Bier und ein Sandwich und unterhielten sich, bis es

zu heiss wurde und sie sich zurückziehen musste.


Weiter ging es an der Ecke 18. Strasse /Block 1617 vorbei. Besonders interessierte er sich für diese

Adresse, denn es war ein seltsamer Zufall, was die Nummern betraf. Ebenso verhielt es sich mit einer

Telefonnummerierung. Denvers nämlich war besonders leicht zu merken: 444-5678. Micky suchte

nach einer metaphysischen Erklärung, verwarf aber die Idee, nachdem er die Chaostheorie bemüht

hatte. Er wanderte weiter nach Osten und durchquerte das Wohnviertel Alkaline Flats des Grid. Er erspähte,

wie eine Frau Geld in einen Zeitungsautomaten warf und rannte zu ihr hin. „Hallo, könnten

Sie mir vielleicht einen Gefallen tun? Könnte ich eine Zeitung haben?“ Sie war verblüfft und wollte die

Klappe gerade schliessen, als Micky eine Hand dazwischen steckte. „Ich habe kein Geld und suche

Arbeit.“ Er griff nach einem Exemplar der ‚Bee‘ und bedankte sich. Die Frau trat zurück und musterte

ihn. „Merkwürdig. Welch ein Zufall! Was für eine Arbeit suchen Sie denn?“

„Weiss nicht genau, vielleicht einen Teilzeitjob mit Handarbeit, bei dem man nicht viel nachzudenken

braucht.“

„An der Z-Strasse wird ein Schnellrestaurant eröffnet. Neulich hing eine Ankündigung im Fenster.

Sie erwarten Bewerbungen.“

„Was für ein Schnellrestaurant?“

„Kann ich nicht sagen. Die sehen ja alle gleich aus.“

„Wo?“, fragte er.

„In der Nähe des alten Target-Gebäudes, gleich neben dem Friedhof.“

„Meinen Sie dem CIA gegenüber?“

„Nein, nicht so weit, hinter dem Tower-Theater.“

„Neben der Sumitomo-Bank?“

„Zwischen der Bank und dem Restaurant ‚La Loca Dia‘.“

„Oh, ich weiss, was Sie meinen. Es wird ein ausländisches Fastfood-Restaurant.“ Die werden wohl

ihre Familienangehörigen einstellen. Wissen Sie, ich muss Ihnen sagen, dass ich die Burgers leid bin.

So was hab’ ich nämlich schon gemacht, und Geschirr spülen möchte ich auch nicht mehr.“

„Wie Sie Wollen.“ Sie faltete die Zeitung und klemmte sie in eine Achselhöhle, trat einen Schritt

zurück und betrachtete Mickys Kleidung. „Sie haben hoffentlich nichts dagegen, wenn ich frage, ob

Sie ein Paar Schuhe brauchen. Es wird ja kalt.“ Micky trug nämlich zerrissene, schmutzige Jeans,

einen ausgeblichenen Trainingspullover und lief barfuss.

„Ja, das stimmt.“

„Nun, wenn Sie wollen, ich habe noch alte Schuhe von einem ehemaligen Mieter. Er hatte etwa

Ihre Grösse. Ausserdem hätte ich Arbeit. Ich könnte Ihnen dafür etwas zu essen geben.“, bot sie an.

„Welche Schuhgrösse haben Sie?“

Micky war sprachlos und wusste nicht, welche Frage er zuerst beantworten sollte. „Ja, ich kann für

Sie arbeiten. Grösse zweiundvierzig.“ Er antwortete so, dass ihm keine Chance entging und war begeistert,

dass diese Frau sich für sein Leben interessierte. Er vergass einen Moment die Herpeswunde,

griff in eine Hosentasche und holte eine eingedrückte Packung Nichtmarkenzigaretten hervor. „Möchten

Sie rauchen?“

„Gern. Schon lange nicht hat mir jemand eine Zigarette angeboten. Danke!“

„Um was für eine Arbeit handelt es sich dabei?“, fragte Micky und zündete die Zigaretten mit seinem

Zippi-Feuerzeug an.

„Wie schon gesagt, zog ein Mieter aus und liess all seine Sachen im Zimmer zurück. Es müsste in

Ordnung gebracht werden. Sie können alles, was noch darin ist, haben. Dann müssten alte Zeitungen

und die Flaschen im Keller zum Recycling Center gebracht werden. In der Garage steht ein Einkaufswagen.

Man müsste mehrmals gehen. Verstehen Sie was von Gartenarbeit?“

„Kommt drauf an, was für welche.“

„Für einen Komposthaufen muss ein Graben ausgehoben werden; dafür wäre ein Tag erforderlich.“

Sie hielt die Zigarette nervös in einer Hand. „Wir können später darüber sprechen.“


„Hört sich gut an.“Er nahm einen Zug.

„Gut, ich zahle pro Stunde und Sie können das Flaschenpfand behalten. Ich bin froh, wenn der

Plunder endlich weg ist. Ich denke, das Geld würde dann für die Heilung der Herpeswunde reichen.“

„Oh, ja!“, sagte er und hielt die Zeitung hoch um die Verunstaltung seines Gesichts zu verbergen.

„Das hat mich ganz fertig gemacht und ich weiss nicht, was ich tun soll.“

„Kommen Sie mit und ich werde Sie verarzten. Im Krieg war ich Krankenschwesterhelferin.“

„Ja, ich habe etwas Zeit, ich komme mit. Wo wohnen Sie denn?“

„Nur einige Häuser weiter: 1418/F-Strasse.“

„Das ist ganz in der Nähe des Hauses, in dem einst Richard Trenton Chase wohnte.“

„Wer ist das?“ Sie stieg über einen Haufen trockener Ulmenblätter und toter braunroter Käfer. „Ist

er mit Ihnen befreundet?“

„Nein“, sagte er lächelnd, „er ist der, der Menschenblut trank, der sich Vampir von Nordkalifornien

nannte. Haben Sie nie von ihm gehört?“ Er deutete auf ein anderes Haus in derselben Strasse.

„Und dort wohnte einmal Squeaky Fromm. Später wohnten dort Freunde von mir; die fanden eine

Waffe in einer Geheimnische unter der Treppe.“

„Wer ist denn Squeaky Fromm?“ Die alte Dame schlurfte den Gehweg hoch mit Micky an der Seite.

„Haben Sie schon mal von der Familie Manson gehört?“

„Nein.“ Sie gingen bis zum Kettenzaun vor dem Haus. „Ich lebe hier schon vierzig Jahre. Das Haus

gehörte einst der Familie Puente. Mein Vater erwarb es, als er Staatsangestellter wurde. An eine

Familie Manson kann ich mich allerdings nicht erinnern.“

„Macht nichts.“ Er folgte ihr in den den Vorgarten mit einem Anflug von Besorgnis. „Das würden

Sie nicht verstehen. Es ist eine lange Geschichte.“

„Vergessen Sie nicht die Tür zu schliessen!“, sagte sie und stieg die Holztreppe hinauf.




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