36. ein icky-tag
36. ein icky-tag
Es gibt tatsächlich eine Menge kleiner Dinge, die mir einen Tag richtig versauen können, z. B. dadurch,
dass jemand zu mir sagt, ich sähe müde aus, auch wenn das gar nicht stimmt, oder wenn etwas
Spinat auf einem Zahn kleben geblieben ist und, obwohl ich vorher schon mit vielen gesprochen habe,
mich niemand darauf hingewiesen hat.
Das beschäftigte Micky, als er auf die Vorbeifahrt des kilometerlangen Zuges wartete, der zweimal
täglich das Grid durchquerte. Er war stinksauer, denn ein mieses Erlebnis hatte ihn nachdenken lassen.
Er hatte sich nach dem Speiseeis ‚Vanille ist es‘ gesehnt und war in den Laden in der Nähe gegangen
um sich den Wunsch zu erfüllen. Aber das letzte war leider gerade verkauft worden. Enttäuscht
wählte er stattdessen ein Pfefferminzeis und wollte zahlen. Die Verkäuferin June behauptete, sein
Fünf-Dollar-Schein sei gefälscht und nahm ihn nicht an. Er dachte sogleich über Verbraucherschutz
nach und ging. Dabei bemerkte er an einer Telefonzelle einen Art-Angles-Aufkleber, riss ihn ab und
steckte ihn ein. Er hatte ein Minimum an Glauben wieder erlangt.
Micky wartete und lächelte den anderen Wartenden zu. Hinter ihnen erstrahlte die Weihnachtsbeleuchtung,
die die Stadt in helles Licht getaucht hatte. Er wunderte sich, weshalb dafür Geld ausgegeben
wurde und ob die Weihnachtsfreude echt war oder einfach nur als Entschuldigung herhalten
musste für selbst erzeugte Desillusionierung.
„He, Sie, psst!“
Micky drehte sich um.
„He, Sie, psst! Hierher! Psst!“
Er musterte die Gesichter.
„Psst! Hierher, Mann!“
Schliesslich bemerkte Micky einen pummeligen Jugendlichen, der sich auf der Holztreppe eines
baufälligen viktorianischen Gebäudes niedergelassen hatte.
„Kommen Sie her, Mann!“ Er winkte Micky zu sich.
Micky sah den Jugendlichen angestrengt an, der ihm nicht ganz unbekannt vorkam. In seinem
rot-weissen Trainingspullover und seinen Jogginghosen sah er recht vertrauenswürdig aus. Ausserdem
trug er neue Jordans-Rennschuhe. Micky drehte sich um und deutete auf sich mit den Worten:
„Meinste mich?“
„Ja, Kumpel, komm her!“, antwortete er.
Micky schlenderte zur Treppe hin.
„Darf ich was fragen?“
Micky nickte.
„Möchten Sie rauchen?“ Er zog an einem imaginären Gegenstand.
Wieder nickte Micky und setzte sich neben ihn.
„Dachte ich mir doch.“ Er zündete den Joint an, den er die ganze Zeit in einer Hand versteckt gehalten
hatte, zog rasch daran um ihn richtig brennen zu lassen und reichte ihn Micky.
Der lächelte und sagte: „Kommt gut!“ und gab ihn zurück. Irgendwie gelang es Micky meist, wenn
er wach war, high zu bleiben. In der letzten Zeit hatte er aber ziemlich schlechten Shit geraucht, der
ihn kaum angetörnt und auch noch Halsschmerzen verursacht hatte.
„Ja, es ist kalifornisches Sunny-Gras, das beste überhaupt, Mann! So guten Stoff gibt’s selten.“ Sie
beobachteten den Zug und genossen den Joint aus vollen Zügen.
„Schade, dass es illegal ist. Sonst würde’s die Welt verändern. Möchtest du den Rest?“
„Nein, danke,“
Micky nahm einen Zug durch die Nase und warf den Stummel in den Garten. Beide sassen still
da und befanden sich in Hochstimmung. Als sie etwas später ihre Umgebung wieder wahrnahmen,
stellten sie fest, dass der Zug bereits vorbeigefahren war.
„Weisst du, ich muss jetzt los. Du kannst mir vielleicht einen Gefallen tun. Brauchst du Weihnachtsgeschenke?
Mir wurde gerade gekündigt und ich benötige Geld. Ich muss ein paar Kassetten
verschachern. Du könntest mir welche abkaufen.“
„Ich glaube, ich hab dich schon mal gesehen, Du arbeitest doch bei Power?“
„Bis vor kurzem. Mann; die haben massenhaft entlassen und es traf auch mich.“
„Du kennst bestimmt auch meinen Freund Denver. Auch ihn hat man gefeuert.“
„Ja, den kenne ich. Ich bin José.“
„Und ich heisse Micky.“
Sie reichten sich die Hände.
„Ich wurde einen Tag nach ihm entlassen. Mein Ersatzmann war schon erschienen. Power ist eine
Maschine und wir sind Sklaven. Wie geht’s Denver?“
„So wie dir; auch er braucht Geld. Ich möchte zwar keine Kassetten, würde aber sehr gern
Haschisch kaufen. Er griff nach seiner Brieftasche. „Hast du was übrig?“
„Mein Onkel hat welchen. Du müsstest also mitkommen. Wir wohnen dort drüben in dem viktorianischen
Gebäude.
„Die beiden liefen über die Gleise zu einem anderen baufälligen Haus, wo José Micky seinem
Onkel vorstellte, und ging in die Küche um heisse Schokolade zuzubereiten. Einen Moment später
wurde Micky plötzlich klar, wer er war, nämlich der Künstler, dessen Anspruch auf Ruhm sich auf
den skandalösen Vorfall gründete, als er sich die Kleider vom Leib gerissen hattte bei einem vom Fernsehen
übertragenen Gottesdienst der Church of Opportunity, First Christian, und er sich mit Schaum
vorm Mund vor den Altar hingeworfen hatte.
„Ich habe im Lokalblättchen über deine Kirchenaktion geschrieben. Toll, dass ich dich nun kennen
lerne.“
„Du hast mich getroffen. Das musste so sein. Zunächst wussten sie nicht, was sie mit mir machen
sollten. Ich behauptete, in einem Zustand religiöser Trance zu sein und dass ich neben dem Altar
schlafen müsste. Die Menschen würden mir etwas zu essen bringen und ich würde ihre Sünden auflecken.
Es war wirklich Kunst, aber es ist schwer eine Plattform zu bekommen, wo man etwas zeigt,
das die Gesellschaft kritisiert. Niemand möchte Mist, der an der Wand hängt. Die wollen nur idyllische
Landschaften und all solchen Kitsch.“
„Ich verstehe, was du meinst.“
„Weshalb ich nicht schon früher daran gedacht habe, weiss ich nicht. Ich habe Geschichten für
eine ganze Lebenspanne. Möchtest du eine Dokumentation sehen?“ Er zündete einen Joint an, atmete
tief ein und reichte ihn Micky. José brachte köstlichen heissen Kakao und Kekse.
Micky sah José an und hörte ihm zu, wie er von seinen Abenteuern in der Kirche ausführlich
berichtete und wie er den Prediger kennen gelernt und ihm von seiner Heiligkeit überzeugt hatte oder
wenigstens von seiner Fähigkeit Menschenmassen anzulocken.
„Am Anfang wollte er sich in meine Begeisterungsabsichten einmischen, aber ich schwätzte weiter
über meine Kunst und verlieh ihr religiöse Obertöne. Das schien ihn zufrieden zu stellen. José
filmte hier die Treffen mit den Pilgern und sehr bald war es wie im Karneval Sie begannen einen Altar
um mich herum zu errichten. Ich hatte ein Blumenbett mit Kerzen, es gab Lebensmittel im Überfluss,
auch Wein und Rum, und ich lag einfach da. Wenn ich mich betätigen wollte, schüttelte ich
mich einfach und brach in Verzückungsrufe aus. Aber nach kurzer Zeit bemerkte ich, dass der
Prediger nicht glücklich war. Mein Altar hatte begonnen die Schönheit seines Altars in Frage zu
stellen. Hier sieht man die Szene, als ich aufstand und hinausging.“
„Du bist einfach gegangen?“
Ja, denn ich fühlte mein Ansehen schwinden. Man merkt, wenn man nicht mehr anerkannt ist.
Alles sollte ein Geheimnis bleiben ohne bitteren Nachgeschmack. Also blies ich an einem nebligtrüben
Abend in Sacramento die Kerzen aus und ging. Performancekunst hat weder Anfang noch
Ende.“
„Hört sich an wie A.K.N.E.-Taktik: antikonstruktivistisch, neoerroristisch.“
„Ich nenne es ‚The Opportunists. Clever and money‘.“
„,Clever and money. The Opportunists‘. Wenn das heisst, willkürlich die Konzepte von müden
Männern zu zerstören, die für Postmodernismus schwärmen, bin ich deiner Meinung.“
Sie gaben sich die Hand.
„Was für ein Zufall! Ich freue mich dich kennen gelernt zu haben. Als ich für die ‚Sutters Weekly‘
über den Mann, der in der Kirche gelebt hatte, nachforschte, habe ich erkannt: Es musste etwas Künstlerisches
sein. Ich weiss, was du in Hanford gemacht hast. Deswegen hat man dich aus der Stadt
verjagt.“
„Raffiniert, Kumpel! Ich hätte nicht Brennstoff mit religiösem Hass mischen sollen. Die Leute
mussten einfach reagieren. Aber darum ging’s ja bei der Aktion. Seitdem bin ich nicht zurückgekehrt.
Deshalb habe ich mich spontan entschlossen die Kirche Christi zu verlassen.“ Er zuckte mit den Schultern.
„Was hast du für Pläne?“
„Zurzeit bin ich mit einem Zeit-Raum-Projekt beschäftigt. Ich wohne in einem Ford Galaxy und
dokumentiere mein Leben in den Strassen von Sacramento. Ich fahre nicht viel mit ihm herum.
Mein Fahrrad schliesse ich an der Stossstange an. Darf ich dich fotografieren?“ Er nahm ein letztes
Stück Keks.
„Na klar. Hört sich gut an. Das wird dann meine erste Dokumentation seit dem Ereignis in der
Kirche. Meine nächste Aktion werde ich langsam angehen. Wie heisst du eigentlich?“
„Micky Hill“, murmelte er und nahm den letzten Schluck Kakao.
„Icky Ill?“
„Na, gut.“ Micky schluckte und räusperte sich. „Warum nicht?“ Er hustete stärker. „Das ist gar nicht
schlecht. Danke.“ Er nahm das von José angebotene Glas Wasser. „Weisst du, man hat mir schon alle
möglichen Namen gegeben. Vor kurzem hatte ich nocht ein ‚m‘ und ein ‚h‘; aber ich bin wohl Icky Ill
getauft worden. Er nickte José zu. „Früher nannte man mich Micky Hill und davor Bicky Hill und
Micky Bill Hill, und lange davor war’s Michael William Hill, der Dritte. Siehst du, und irgendwann
wird der Name verkürzt zu Ill oder K.Y. oder vielleicht einfach zu Y.“
„Mann, wie dekonstruktivistisch, seinen Namen zu verkürzen! Darüber lohnt es sich nachzudenken!
Also: Micky Hill oder Icky Ill. Der erste Name erinnert mich an etwas. Es ist eine vage Vermutung.
Du kennst nicht zufällig eine Künstlerin Vella Schwarzmann?“
Icky bejahte laut und deutlich pfeifend.
„Dachte ich mir schon. Wir besuchten dieselbe Schule in Sacto, bevor sie nach Stockton umzog. Vor
langer Zeit eröffneten wir eine Ausstellung in Berkeley, bei der sie bügelte und Geschichten über
Kindesmissbrauch und Völkermord erzählte und ich nackt zwölf Stunden lang in einer Badewanne
voller Kuhaugen gelegen habe.“
„Ich entsinne mich von Vella davon gehört zu haben. Ich habe auch Aufnahmen von der Ausstellung
gesehen. Bis heute ist es die einzige geblieben. Die war wirklich gelungen. Allzu gern hätte ich
sie selbst erlebt.“ Icky musste gähnen und hielt seine Arme über den Kopf. „Tut mir sehr leid: Sauerstoffmangel!“
„Ja, die war wirklich stark. Einige Besucher mussten sich übergeben. Vella hatte sehr viel Speed
genommen, redete und redete, und plötzlich war sie weg. Ich glaube nicht, dass sie auch nur eine
Sekunde geschwiegen hat ausser natürlich dann, als sie zusammengebrochen war und zu weinen
anfing. Es war ein emotionales Irrenhaus. Menschen kamen und erzählten von Ausschweifungen,
andere schütteten ihr Herz aus bis zum letzten Blutstropfen. Das überstieg die Toleranzgrenze jedes
durchschnittlichen Besuchers. Deshalb gab’s etwas Derartiges nie wieder.“
„Also du hast in der Badewanne gelegen!“
„Ja,ja. Ich hatte damals ziemlich lange Haare.“ Er strich sich über seinen Kahlkopf. „Vella hat mir
Arbeiten von dir und einem Freund von dir gezeigt, ich glaube, er heisst Danny Griess.“
Icky lachte. „Denver Griess.“
„Ja, richtig. Sie hält euch für ein geschicktes, schöpferisches Duo.“
„Gut zu wissen.“
„Sie schätzt euch sehr und ist froh darüber, dass ihr die Fackel weitertragt.“
„Wirklich? Sehr freundlich von ihr. Ich schätze Vella auch; aber sie hat mich durch die Hölle gehen
lassen. Erst nachdem ich mich beruhigt hatte, wurde sie auch ruhig. Sie hat es sehr gut verstanden
mir auf die Nerven zu gehen.“
„Ich weiss, was du meinst. Auch ich habe einige Geschichten. Sie hat immer versucht aus anderen
das Beste herauszuholen.“ Er nickte dazu „Wir müssen uns mal wieder sehen. Du weisst ja, wo ich
wohne. Deinen Artikel würde ich gern mal lesen. Ausserdem plane ich eine Aktion, an der du vielleicht
teilnehmen möchtest. Wie viel Hasch hättest du denn gern?“
„Nur eine kleine Portion. Viel Geld habe ich nämlich nicht.“ Icky wollte seine Brieftasche hervorholen.
„Oh, Mist!“ Er durchsuchte seine Taschen und blickte misstrauisch um sich. „Wo hab’ ich die
bloss? Heute Morgen besass ich sie noch. Moment mal, ich glaube, ich weiss es.“ Ohne weitere Erklärung
stürzte er durch die Vordertür über die Strasse zu dem Gebäude hin, wo er José getroffen
hatte. Verzweifelt suchte er die Umgebung ab, fand sie aber nicht. „Paah!“, fluchte er und schlug mit
einer Hand auf die Stirn. „Ein schlechter Tag!“
Kommentare
Kommentar veröffentlichen