41. zufallszirkus
41. zufallszirkus
Als er nach Hause kam, ging er zuerst in die Küche, holte ein Bier aus dem Kühlschrank, ging dann
ins Wohnzimmer und hörte den Anrufbeantworter ab.
„Tschüss! Ich bin nicht zu Hause. Lass mich in Ruhe!“ Seine Stimme war zu hören,als der Apparat
zurückspulte, und er liess sich in den grossen Sessel fallen und nahm einen Schluck Bier.
„Meine Welt in meinen Fingerspitzen.“ Denver rülpste und schaltete mit der Fernbedienung den
Fernseher ein. Er vernahm einen Sambarhythmus, der den Anfang, die Mitte oder das Ende der ‚I Love
Lucy‘-Show ankündigte. Er versuchte herauszufinden, welche Folge gerade gesendet wurde
Lucy zeigte Ethel gerade ihren neuen Hut. Da er nicht billig war, sagte Ethel, würde Lucys Mann
Ricky ausser sich sein. Denver wusste, dass er es schliesslich herausfinden würde, mehrmals ‚Eijeijei‘
sagen und ihr dann vergeben würde, weil er sie ja liebte. Ein Happyend also! Dann schaltete er auf
einen anderen Sender um.
„Was vor fünfzig Jahren nur Einstein wusste, ist heute Allgemeingut. Jetzt kann man eine gut bezahlte
Beschäftigung als Atomwissenschaftler haben, lernen Brutreaktoren zu konstruieren und die
Prinzipien der Kernfusion, die Welt der Atome, Quarks und Nanosekunden verstehen, vielleicht sogar
den Quantensprung in die Subatomarphysik tun.“ Lächelnde Gesichter von Kernphysikern in Schutzanzügen
füllten den Fernsehschirm. „Auskunftgebende stehen bereit.“
Die Mitteilungen wurden abgespult. „He, Denver, ich möchte mit dir reden.“ Das war Icky. „Stell
dir vor: Ich habe einen Code erhalten und soll mit Aliens sprechen können. Wir sehen uns später. Ich
soll Karotten essen. Bin gerade im ‚Bum’n Burn‘. Triff mich dort, wenn du dies abgehört hast!“
„Hallo! Das bin ich vor 35 Jahren und vor fünf Jahren. Ich war alkoholabhängig und fett wie ‚ne
Kuh, die immer alles in ihrer Reichweite getrunken und gegessen hat. Schaut mich jetzt an! Ich bin
Neil Jung, berühmter Volkssänger. Mithilfe des neuen evolutionären Zehn-Plus-Zehn-Stufenprogramms
der Anonymen Alkoholiker und der Anonymen Übergewichtigen habe ich aufgehört zu
trinken und wiege nur noch fünfzig Kilo. Meine Freunde mögen mich wieder und meine Frau sagt,
ich wäre ein neuer Mensch. Meine Agenten rufen mich auch wieder an.“ Spot aus.
„Das ist sicher eine angenehme Nachricht, Mr. Griess. Hallo, hier spricht Mrs. Weatherbean
von den ABC-Rechtsanwälten. Wir informieren Sie über die fällige Zurückzahlung des Studienkredits.
Der gegenwärtige Stand beläuft sich auf 2537,39 Dollar. Wir haben rechtliche Schritte
eingeleitet um das Geld einzutreiben. Mr. Griess, wir werden Ihnen das Leben schwer machen
müssen. Mehrfach haben wir Sie angerufen und Sie auch öfter angeschrieben. Doch Sie haben nicht
reagiert.“
„Eigentlich müssten Sie unsere Telefonnummer kennen; trotzdem wird sie hiermit wiederholt.:
I-8OO-ABC-LOAN. Ich bin Mrs. Weatherbean, und Sie erreichen mich unter der Apparatnummer
3O1. Danke und einen schönen Tag.“
Denver blickte zu dem AB und fluchte. Der Apparat lieferte die nächste Nachricht. Dann schaltete er
wieder einen neuen Sender ein.
„Bleib stehen, Kumpel!“ Schüsse waren zu hören.“He, ich bin nicht immer Sicherheitsmann
gewesen; aber nach drei kurzweiligen Wochen im ACME Security Service erhielt ich mein Diplom,
sodass mein Leben wieder Sinn und Zweck hat. Denken Sie nicht nach!“ Noch zwei weitere Schüsse
wurden abgegeben. „Rufen Sie bitte an.!“
„Denver, Denver, bist du wieder zu Hause?“ Es war nochmals Icky.
Eine junge Frau in Firmenkleidung aus Synthetik erschien auf dem Fernsehbild. „Ich sass
fest in einer Sackgassentätigkeit als Sekretärin und verdiente nicht genug um meine monatlichen
Visakartenrechnungen zu bezahlen. Jetzt habe ich dank der ‚SAC TECH School of Business‘ einen
zukunftsträchtigen Job“, sie lächelte ihren Chef an, „und ein amerikanisches Auto.“
„Denver, ich bin immer noch im ‚B and B‘. Bist du schon zurück? Mir wurde gerade klar, dass der
seltsame Typ derselbe war, der meine Brieftasche gefunden hatte. Mir passieren die verrücktesten
Dinge. Ich fühle mich verfolgt. Cleverness und Geld. Also bis später.“
„Wieder das gleich? Haben Mobbing oder überzogene Forderungen der Vorgesetzten Sie den Job
gekostet? Wollen Sie ins Management befördert werden? Wollen Sie leitender Angestellter werden,
aufsteigen, nicht nur ein einfacher Arbeiter sein und nicht zur Gruppe der zuerst zu Entlassenden
gehören? Lernen Sie das System von Hierarchie, Unterordnung und Kontrolle kennen!“
Der AB enthielt eine weitere Nachricht: „Hallo, Denver. Ich bin’s nochmal. Mir geht’s einigermassen.
Ich komme aus meiner Höhle heraus, wage mich ans Licht. In der letzten Zeit habe ich nur
im Bett gesessen, gegrübelt oder den Haustierpsychosender geschaut. Vor einiger Zeit war’s wirklich
schlimm; ich habe Kerzen angezündet und bin auf Zehenspitzen durch die Wohnung stolziert. Noch
viele Rechnungen sind zu bezahlen. Die Furcht davor, dass Chad es herausfinden wird, macht mir
arg zu schaffen. Ich drehe fast durch und schneide Schnipsel aus. Du wirst nicht glauben, dass ich
Bierdeckel aus japanischem Seidenpapier ausgeschnitten habe. Sie sind wertvoll und teuer, und ich
werde sie im Mill Valley an Yuppies verkaufen. Ich telefonierte mit …“
„Hallo, ich bin Mr. Miles, CEO. Vom einfachen Polizisten habe ich mich bis an die Spitze hochgearbeitet.
Jetzt bin ich der CEO einer Sicherheitsfirma und vermittleanderen die Prinzipien, die mir
meine gegenwärtige Position ermöglicht haben. Rufen Sie heute noch an oder schauen Sie auf die
Website-Adresse am unteren Bildschirmrand!“
„…, weil ich die neue Adresse von Benny benötige. Die Galerie soll umgezogen sein. Er hat nämlich
noch meine Ausstellungsstücke und will sie nicht zurückgeben. Ich habe einen Anwalt eingeschaltet,
damit er wegen Diebstahls bestraft wird. Es handelt sich mindestens um mehrere tausend
Dollar. Er hat mich dazu überredet ihm die Arbeiten zu geben, als ich schwach oder betrunken oder
beides war. Na gut, du bist nicht da. Ich rufe dich wieder an, oder ruf’ du mich an! Denk dran: zweimal
anrufen und auflegen! In Liebe.“
„Denver! Es ist sogar noch schlimmer als beim letzten Mal.“ Biancas Stimme war schrill. „Ruf an,
wenn du wieder zurück bist!“ Aber Denver stellte vielmehr den Fernseher lauter.
„Bist du abgefahren auf Alk, Shit, Koks oder Pillen? Hast du denn überhaupt versucht aus der selbst
gegrabenen Höhle heraus zu kriechen? Bist du’s satt in dem selst gemachten Bett festzustecken?“
„Denver, lösche die letzte Aufzeichnung! Ein schlimmer Unfall hat sich ereignet. Etwas Schreckliches
hat …“
„Können Sie die Telefonnummer auf dem Bildschirm entziffern? Falls nicht, bitten Sie jemanden
um Hilfe! Wir sind preisgünstig zu erreichen.“
„… ’s Haus ist abgebrannt.“ Dann versagte Biancas Stimme. „Ja, Denver, an der Stelle des Wohnzimmers
klafft jetzt ein riesiges Loch. Vater und Mutter sind nicht zu finden. Es ist, als ob eine Bombe
abgeworfen wurde oder Ausserirdische sie weggezappt hätten.“
Denver setzte sich aufrecht hin.
„Komm so schnell wie möglich nach Fresno! Ich rufe alle an.“
Er konnte im Hintergrund eine Sirene heulen und seine Schwester seufzen hören.
„Brauchen Sie eine interessante Tätigkeit oder eine Berufsveränderung? Haben Sie jemals an eine
Teilzeitbeschäftigung als Internet-Operator gedacht? Wir suchen fähige Mitarbeiter für unser Team.
Viele Firmen suchen gut ausgebildete Internetspezialisten. Wenn Sie schrieben können, sind Sie die
Richtigen. Zögern Sie nicht, sondern bewerben Sie sich jetzt!
Denver schaltete den Fernseher aus. Stille ergriff den ganzen Raum. Einige Zeit versuchte er seine
Gedanken zu ordnen. Er starrte auf einen Sacramento-Smelts-Kaffeebecher, nachdem er sich seinem
Tagtraum entrissen hatte.
„Ich denke, ich mach mich gleich auf nach Fresno. Oh je, mein Elternhaus in Trümmern, Mutter
und Vater im Weltall! Welch trauriger Tag!“ Er nahm rasch einen Schluck Bier.
„Wie soll ich nur hinkommen?“, fragte er laut nachdenkend, erhob sich und stellte das Radio an.
„Hoffentlich kann ich Micky überreden.“
„… über Denver, Colorado“, kündigte ein Radiosprecher an. „Und nun das Wetter: Ein starker
Sturm bewegt sich auf das Valley zu. Für die frühen Morgenstunden erwarten wir Regen.“
„Hallo. Seien Sie wieder willkommen! Hier ist der Sender KDVS, 98.2. Ich bin Steve Phuk und
Sie sind hören die ‚Phuk Show‘.“ Ein Easy-Listening-Werbespot folgte der Einleitung.
„Sie haben gerade Random Circus gehört mit ‚Was für eine Last‘, einem Lied unseres Ehrengastes
Natural Childbirth, Trommler der Gruppe ‚The Geniuses‘.
„Wir senden Musik der hiesigen Musikgruppe ‚The Geniuses‘. Ihr Spitzen-schlager ‚Butterflies
are Free at the Zoo‘, die Neubearbeitung eines Popklassikers, hat die Gruppe auf einen der vorderen
Plätze der landesweiten Rangliste gebracht. Zum letzten Mal treten sie heute Abend um ‚Post 68‘ in
Sacramento auf. Wir von KDVS sind stolz darauf sie vor ihrer Tour durch das ganze Land finanziell zu
unterstützen. Das Lied wird später im Programm zu hören sein, aber vorher möchte ich euch noch unseren
Studiogast vorstellen.“
Während er der Radiosendung lauschte, suchte er alles zusammen, was er für die Reise in seine
Vinylflugzeugtasche stecken wollte. Für die Katzen füllte er eine Schale mit Kitty Chow und packte
für sich etwas zum Essen ein. Aus dem Schlafzimmer holte er saubere Unterwäsche und im Badezimmer
füllte er seinen gelben Kulturbeutel mit verschiedenen Dingen aus dem Arzneischränkchen.
Im Studio begrüsse ich den Schlagzeuger der ‚Geniuses‘. Natural oder darf ich dich wie deine
Freunde Natty nennen?“
„Natty ist o. k.“
„Natty, ich möchte dich unbedingt fragen, wie es war, als ihr den Titelsong aufgenommen habt?“
„Na ja, es ist wie dieses (PIEP), ich hatte keine Einwände (PIEP) dagegen. Vom Standpunkt des
Schlagzeugers (PIEP, PIEP) ist es ein ziemlich einfaches Lied und die (PIEP) Melodie ist (PIEP), wie
ich sie mag.“
„Ich (PIEP) wurde öfter nach Hause geschickt, weil ich im Unterricht Schimpfwörter gebraucht
hatte. Erst als der Schulpsychologe (PIEP) mich untersuchte, wurde festgestellt, dass ich (PIEP) an
einer (PIEP) Störung, Tourette Syndrom genannt, leide.“
„Wie gehst du damit um?“
„Na wie (PIEP). Meine Eltern sind Siebenten-Tags-Adventisten und ich durfte in meiner Jugend
keine Drogen nehmen. Sie glaubten (PIEP), dass ich nach eifrigem Beten von Christus (PIEP) geheilt
würde.“
„Hat’s gewirkt?“
„Überhaupt nicht (PIEP, PIEP). Als ich jung war, habe ich mir ständig (PIEP) hemmungslos einen
(PIEP) runtergeholt. Erst mit (PIEP) achtzehn wurde ich mit (PIEP) Medikamenten behandelt. Später
erhielt ich ein Schlagzeug und etwa so (PIEP) war’s halt.“
„Hat der Erfolg dich irgendwie verändert?“
„Ich (PIEP) weiss es nicht. Ich habe (PIEP, PIEP) kein Geld gesehen. Wir reisen (PIEP) soviel,
Mann, drei Monate lang das Valley rauf und runter. Wir sind (PIEP) nach Hause gekommen zu diesem
letzten Auftritt, bevor wir (PIEP). (PIEP) unser Album im Studio produzieren.“
„Das ist noch brandneu. Die Früchte eures Erfolgs habt ihr noch nicht geerntet. Liebe Zuhörer!
Wie ihr bemerkt habt, müssen wir leider Nattys obszöne Ausdrücke wegpiepen. Natty, du machst es
unserem Zensor sehr schwer; aber ich glaube, er schafft es trotzdem.“
„(PIEP) Hoffentlich (PIEP) gelingt’s ihm.“
„Hat dir diese Schwäche irgendwie geschadet?“
„(PIEP) Mann, überhaupt nicht.“
„Euer zweites Lied ist ein eigenes und klettert auf die vorderen Plätze. Woher kam die Idee zu
‚I wanna get, wanna get‘?“
„Es ist eins unserer älteren Lieder zum Mitsingen, ein Trinklied. Es ist ein (PIEP)Zugabelied und
(PIEP) richtig eingeschlagen.“
„Du gehörst doch zur Kunstszene Sacramentos. Was läuft da so?“
„Oh, ne ganze Menge. Aber, weißt du, die Ärsche vom Kunstamt (PIEP) verhindern vieles. Sie
fördern (PIEP) Gegenwartskunst überhaupt nicht. Ich kenne einen Typen, der ein Jahr in einem Ford
Galaxy wohnt und einen, der immer gelbe Kleidung trägt. Aber (PIEP) sie finden einfach keine
Anerkennung. Wir erregten (PIEP) Aufmerksamkeit durch die Coverversion eines blöden Liebeslieds.“
„Und was ist mit dem Preis von Reis in Blyte City“
„Ach, scheiss drauf (PIEP)! Sollen wir (PIEP) noch darüber sprechen?“
„Lassen wir’s. Die Gruppe geht also ins Studio und ihr habt genügen Lieder für eine CD.“
„Ja, Mann. Wir haben etwa zwanzig Kracherlieder.“
„Was gibt’s denn als nächstes?“
„Wissen wir noch nicht. (PIEP) Wir haben bei (PIEP) unseren öffentlichen Auftritten positive
Reaktionen auf unseren Titel ‚Donut‘ erhalten.“
„Was wird dir persönlich das nächste Jahr bringen?“
„Nun, nach der Fertigstellung der CD bekomme ich (PIEP) acht Wochen Urlaub und dann (PIEP),
Mann soll im Frühjahr die CD erscheinen.“
„Vielen Dank für das Gespräch.“
„Gern geschehen (PIEP), Mann.“
„Nun, Leute, ihr habt’s hier in der Phuk Show gehört. Wir verabschieden uns von der Gruppe mit
einem rauschenden Konzert. Natty und ich hoffen euch heute Abend zu sehen im ‚Post 68‘ gegenüber
dem Sutter Convention Center, 16th Street und F. Es beginnt um 21 Uhr. Die ersten zehn Anrufer,
die Nattys Nachnamen nennen können, erhalten Freikarten. Unsere Nummer lautet 767 – KDVS.
Nun folgt der angekündigte Schlager ‚Butterflies are Free at the Zoo‘ von den ‚Geniuses‘. Dies ist der
Sender KDVS, 98.2
Never goin’ to be happy again.
How am I going to get through?
Lying naked in a cage
can’t take it, full of rage
bleeding heart on the floor
walk on by, you care no more.
Als das Lied gespielt wurde, nahm Denver die Hausschlüssel, verabschiedete sich von den Katzen,
setzte eine gelbe Baseballmütze auf, zog den silbernen Feuerwehranzug an, den er von Micky zum
Tausch für eine Tüte mit dem Aufdruck der Nationalflagge erhalten hatte und hing sich seine Reisetasche
um. Nach dem Ausschalten des Radios machte er sich auf den Weg. Als er die Holztreppe hinabstieg,
blickte er zu Janets Zimmer hinüber, um zu sehen, was sie an diesem nebligen Abend wohl
machte, und ging in Richtung ‚Bum’n Burn‘.
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