07. delta stint oder rute

 07. delta stint oder rute

Nachdem sie sich von ihrem plötzlichen Sieg erholt hatte, beschloss Dee Valium zu schlucken und

direkt auf Online zu gehen. Den schweren Kristallaschenbecher trug sie in das Wohnzimmer und als

sie vor der an der Sofalehne befestigten Tastaturstand, betätigte sie das Ikon ihrer speziellen E-Mail-

Liste. Sie verfolgte aufmerksam die Progression der Befehle und Codewörter und verband sich mit

der Welt durch Tippen über Satellitenmikrofrequenzen und Breitbandkabel. Da ihr Computer ihre

Mails sammelte, lief sie in die Küche und gönnte sich einen Krug Kräuterlimonade mit Vanilleeiscreme.

Sie kam zurück, stellte ihren Krug, den das Logo ihres Lieblingsbaseballteams schmückte, auf den

Kaffeetisch und setzte sich auf das Sofa hin vor den Monitor, der geduldig auf den nächsten Auftrag

wartete. Dee begann wie jeden Tag auf Mutter Stewards Website für Haushaltsratschläge zu surfen,

schaute in die Home Shoppers Site und war wütend, dass sie die gleiche kegelartige Insektenbrosche

zu der Hälfte des Preises anboten, den sie gezahlt hatte.

Sie dachte, es wäre lustig akustische Berichte ihrer Familie zu sammeln, die ursprünglich den

Zweck hatten, den Kindern den Kontakt mit ihren Eltern zu ermöglichen und kaufte drei Broschen.

Martin, Bianca and Denver hatten sich dieser Sachen schnell entledigt, indem sie sie Freunden

oder Bekannten schenkten. Dees Drei-Kugel-Wanzen waren nun irgendwo da draussen und konnten

spontan solange abhören, solange die solargetriebenen flügelf.rmigen Rezeptoren aufgeladen

und sendefähig waren.

Sie klickte das Wanzen-Ikon an und schaltete die entsprechende Stelle an um abhören zu können.

In den letzten Wochen hatte Martins früheres Geschenk Gespräche aufgenommen über die Themen

Wetter, die Eigenart der Brosche und die Stärke eines bestimmten Kaffees.

Sie steckte sich eine Zigarette an.

„Sagen Sie, Sie trinken ihn mit Sahne und Zucker, nicht wahr?“ fragte eine männliche Stimme.

„Was bedeutet diese Metallwanze auf der Kaffeemaschine?“

Sie hörte das Geräusch, das durch das Tropfen des Kaffees in den Becher entstand.

„Na, das ist ja merkwürdig.Warum blinken ihre Augen? Ist sie aktiv?“

Sie hörte das Rauschen der Wanze, die bewegt wurde, und den Aufprall auf einer harten Oberfläche.

„Ich weiss nicht. Es gibt da so was wie ne Batterie“, antwortete eine Frauenstimme

„Meine Kleine würde es mögen.“

„Dann nimm sie doch!“

„Von wem stammt sie also?“

Plötzlich war der Ton gedämpft. Sie hörte Kratzgeräusche und eine schwach säuselnde Unterhaltung

ohne Einzelheiten erkennen zu können. Ihr Interesse war etwas erwacht. Sie wartete kurz, bis

das Signal verschwand, nahm einen Schluck Kräuterlimonade und klickte weiter zu Prediger Dan,

gerade rechtzeitig, um einen Mann den Mittelgang entlang laufen zu sehen, der sich vor den Altar

warf und sich entkleidete. Sie schaute einige Minuten hin, verlor aber das Interesse, als der Kern seiner

Ekstase nicht öffentlich gemacht und der Gottesdienst wegen Werbung unterbrochen wurde. Sie

klickte auf ein Ikon und wechselte ihren Glauben um das tägliche Horoskop zu lesen.

Sie war glücklich darüber, dass ihr Argwohn bestätigt wurde. Heute war ein guter Tag. Die Planeten

standen in richtiger Ordnung und entsprechend der mystischen Zahlenlehre, und ihre Zahlen

ergaben eine positive Summe. Nachdem sie die Sprüche des Tages der anderen Gesundbeter,

Verhaltensberater und religiösen Führer konsultiert hatte, fühlte sie sich in der Lage nach Liebe zu

surfen.


Irgendeine Färse

auf der Suche nach neuen Weidegründen

und einem starken Landarbeiter,

Fraulein Debby


Sie war auf dem richtigen Rendezvousplatz. Froh darüber ihren Namen richtig buchstabiert zu haben,

aber noch nicht sicher, wie er ausgesprochen wurde, surfte sie weiter mit dem gleichen spinnerten

Fotomotiv, das sie bei ihren früheren Abfragen verwendet hatte. Dieses Mal stellte das neue Foto dar,

wie sie allein auf dem Beifahrersitz von Martins BMW als Kuh kostümiert sass, die einen Würstchenballon

aufblies.

Sie klickte hinüber zur Sektion ‚Stute sucht Fisch‘ und startete ihre Männerjagd. Ein mit Cal Tex

betiteltes Foto erregte sofort ihre Aufmerksamkeit. Es zeigte einen kräftigen halbnackten Mann, der

mit einem Kohlblatt auf dem Kopf und einer Mistgabel in der Hand auf einem Acker stand. Er hatte

seine Anzeige mit zwei simplen Slogans versehen und dem Angebot eines Fotos seiner Rute für alle,

die ihm schreiben würden. Das blieb in ihren Gedanken haften, während sie weiter suchte in der Hoffnung

auf andere Optionen. Sie ging zurück und starrte auf das Foto und ihre Erwartungen schwollen

zeitlich unbegrenzt an. Sie träumte davon, wie ihr langweiliges Dasein sich in Luft auflösen würde

und sie hatte die Vision, mit Cal Tex im Schlepptau über die Felder zu wandern. Die Eröffnungsmusik

zu einer Nachmittagstalkshow lieferte die Erkennungsmusik.

Ein TV-Ikon war auf ihrem Fernsehmonitor erschienen. Sie drückte die Kippe ihrer ‚Virginia Svelte‘

aus, rülpste, wobei sie einen Nachgeschmack des Getränks empfand und teilte ihren Monitorfläche

um ihre Talkshow zu erfassen, während sie gleichzeitig mit sich selbst diskutierte, ob sie auf den Lockruf

reagieren sollte. Das Foto seiner Rute verunsicherte sie. Sie hatte einen Eindruck davon, wie sie in

Wirklichkeit sein könnte. Sie beschloss sich darauf einzulassen, wollte die Initiative ergreifen und

einen Text an Cal Tex zu verfassen. So könnte sie ja den Nachmittag sinnvoll verbringen. Damit gab

sie ihrem Leben einen Sinn.


Mein Lieblingstexaner,


Schlechter Start. Ihr fielen andere Kosenamen wie Chili Bean, Oilwell oder Rind ein; doch war sei mit

keinem zufrieden. Aus irgendeinem Grund war sie nicht in der Stimmung eine grossspurige Antwort

abzufeuern. Das Foto, auf dem er ganz allein stand und das Empfindungen eines einfachen

Lebens in ihr herauf beschworen, hatte eine eigenartige Wirkung auf sie. Sie löschte den ersten Versuch

und fing noch einmal an.


Lieber Tex,


Dee war verwirrt. Was könnte sie schon Wichtiges über sich sagen? Erst nachdem sie ein paar Mal in

den Kühlschrank hineingeschaut und mehrmals das Haus umrundet hatte um zu prüfen, ob etwas

schmutzig geworden war und nach einiger Seelenerforschung beschloss sie, es wäre besser nichts zu

beschönigen. Die Wirklichkeit war schon verrückt genug um noch übertroffen zu werden. Dee sass

da um die Atmosphäre für Inspiration zu sondieren. Plötzlich sagte Jerry: Liebhaberschütteln. Sie

stand vom Sofa auf, spülte ihren Delta-Stints-Krug aus und füllte ihn mit frischem Eis und Kranenberger

Sprudel, kehrte ohne nachzudenken zurück und begann zu tippen.


Lieber Tex,

Es scheint so, als ob wir uns im Zustand des Verliebtenschüttelns befänden. Ich bin eine Frau und

war noch nie in Chico, aber ich habe viele Male Viva Las Vegas besucht.


Sie legte den Bleistift nieder, sozusagen: Scheibblockade. Sie wusste nicht weiter, hatte Angst und

wollte plötzlich nirgendwohin.

Sich zurücklehnend blickte sie im Zimmer umher und starrte auf die an den Wänden hängenden

eingerahmten Reiseplakate. Die Aussicht einen weiteren Sommer mit den gleichen Aktivitäten zu

verbringen war überw.ltigend.

Ihr Leben, das schon schmerzhaft langsam verlief, würde ziemlich sicher zu einem Stillstand

führen. Der Sommer würde aus Wiederholungen von Fernsehsendungen bestehen. Mal würde es

dazwischen ein Picknick geben, einen Geburtstag oder einen Todesfall, das jährliche Kirchenfest, die

jährliche Werbemesse in Viva Las Vegas und die allgegenwärtige Hitze, die sogar die Gesunden dazu

treiben würde, die abscheulichsten Verbrechen zu begehen.

Nichts zu tun. Es muss ein Feuer werden, dachte sie, als sie die Trance hinter sich gelassen hatte

und ihre siebente Svelte anzündete. Gelähmt durch Langeweile stellte sie die Lautstärke höher und

schlurfte zum Bad um eine halbe Valiumtablette einzunehmen.

„Gleicher Unterschied“, kommentierte ein Gast. Dee sass wieder auf dem Sofa und versuchte

erneut einen Reim zu schmieden. Das Ergebnis liess einen Sinn vermissen. Das Valium verlangsamte

ihre schöpferischen Kräfte. Die folgenden Stunden verbrachte sie auf dem Sofa mit mailen, wobei

sie hunderte von Textvarianten durchspielte; gelegentlich geriet ihr Bewusstseinsstrom ausser Kontrolle.


Lieber Tex,

Es scheint so, als ob wir uns im Zustand des Verliebtenschüttelns befänden. Ich bin eine Frau und

war noch nie in Chico, aber ich habe Viva Las Vegas besichtigt. Meine Lieblingsmusikerin ist Serena

Lyon. Meine Hände und auch meine Füsse sind sehr sanft. Braun sind meine Augen und meine

Schuhgrösse beträgt sieben.


Sie unterbrach ihre seelischen Qualen, wusste aber, dass ein Foto erforderlich war und bedauerte, das

Gedächtnis zu strapazieren um es zu finden. Es bedurfte geraumer Zeit um sich daran zu erinnern,

wo die Stapel der mit Familienfotos gefüllten Schuhkartons standen. Sie holte sie aus einem selten

benutzten Schrank in dem Gästeschlafzimmer, wo sie hoch auf einem Regal hinter dem Kasten mit

Weihnachtsschmuck standen und kehrte in das Wohnzimmer zurück.

Auf dem Teppich sitzend sortierte sie Bilder aus, auf denen sie unvorteilhaft getroffen war und

solche mit der Darstellung von bedauerlichen Ereignissen und somit für die Dokumentation ungeeignet.

Sie legte nicht viel Wert auf andere Familienmitglieder, ob nahe oder entfernte, die möglicherweise

an den Souvenirs interessiert sein könnten. In Minutenschnelle hatte sich Dee fast zwanzig

Jahre ihres Lebens im Kamin entledigt und die entstandene Wärme veranlasste sie die Klimaanlage

per Hand zur Kühlung des Hauses umzustellen. Der Stapel mit Fotos, die sie zum Zweck der

Kontaktaufnahme mit Männern ausgewählt hatte, war bescheiden. So blieb nach der Endauswahl nur

eine Handvoll zum Scannen übrig.

„Paradies“, liess eine Stimme eines TV-Talking-Head verlauten.

Sie verweilte schliesslich bei einem Foto aus Viva Las Vegas. Es war schon etwas angejahrt, aber das

einzige Bild von ihr, das sie finden konnte, das etwas Pep hatte und eine fünf Kilo leichtere Frau darbot.

Martin hatte sie bei einer natürlichen Pose am Hotelschwimmbecken aufgenommen. Sie sah gut

aus in dem damaligen orange-gestreiften Hosenrock aus dem Warenhaus Godschalks. Die gelbe Bluse

war eng genug um einige ihrer weiblichen Merkmale zu betonen. Ihre Haut war gebräunt, die Sonnenbrillengläser kreisrund, ihre Sandalen weiss und der Hut aus Stroh.


Schliesslich war Dee fertig. Sie glaubte einen fast perfekten Brief geschrieben zu haben, denn sie hatte

sich hilfreiche Grammatiktipps aus dem Programm ‚Steward’s Digest‘ geben lassen und Rechtschreibfehler

tilgen lassen; ausserdem suchte sie intensiv im Internet nach, um sich über Körperfunktionen

zu informieren. Kein Mann würde sich nicht in einen so schön formulierten Brief verlieben können.

Als sie die Endfassung nochmals durchlas, klang das Geräusch konservierten Beifalls durch ihr

Vorstadthaus.


Lieber Tex,

Es scheint so, als ob wir uns im Zustand des Verliebtenschüttelns befänden. Ich bin eine Frau und

war noch nie in Chico, aber ich habe viele Male Viva Las Vegas besucht. Meine Lieblingsmusikerin ist

Serena Lyon. Meine Hände sind sanft und meine Füsse auch. Ich habe braune Augen und trage

Schühe der Grösse 7. Die Haare sind gefärbt und die Hüfte ist breit. Die Brust ist üppig und die Lippen

sind Juwelen.

Dieses Foto ist zehn Jahre alt und ich bin fünf Kilo schwerer. Es tut mir leid, aber ich glaube nicht,

danach nochmals fotografiert worden zu sein. Ich mag Baseball und die Farbe Orange. Mein Sternzeichen

ist Waage und ich habe manchmal Lust auf Chow Mein. Meine Lieblingszahl ist die Drei. Ich

rauche ‚Virginia Svelte‘.

Du siehst gross aus. Bist du das auch? Mir gefällt dein Schnurrbart. Rauchst du? Ich lebe in Fresno,

wurde aber auf einer Farm im Sacramento-Delta geboren. War all den Mist leid, so dass ich früh heiratete

um dem zu entfliehen. Wie ich das jetzt bedauere!

Das Vorstadtleben liegt mir gar nicht. Man sagt, es sei das Paradies; ich dagegen finde es höllisch.

Es ist schlimm und folglich wird es Zeit für mich auf die Farm zurückzukehren.

Ich habe zwei Kinder; beide sind erwachsen und stehen auf eigenen Beinen. Ich bin allein. Mein

Mann arbeitet als Werbefachmann. Er ist immer unterwegs. Sein Heim ist für ihn wie ein Motel. Er

kommt nur zum Schlafen her. Unsere Beziehung zeichnet sich nicht mehr durch Liebe, sondern nur

noch durch Routine aus.

Ich weiss, dass sich das blöd anhört, aber ich glaube nicht, dass er es bemerken würde, wenn ich

nicht mehr da wäre.

Mein eingezwängtes Leben ist nicht kurzweilig genug um erzählt zu werden. Ich bin es leid, immer

nur Patience zu spielen. Das leichte Leben zieht mich hinunter. Gleicher Unterschied. Ich bin weder

hier noch dort.

Es ist mir allmählich klar geworden, dass dies mein Leben ist und ich – verdammt noch mal! – tun

und lassen kann, was mir gefällt. Ich müsste total bescheuert sein so weiter zu leben wie bisher. Ich

fange jetzt ganz neu an. Du auch?


In freudiger Erwartung auf eine rasche Antwort

und voller Neugierde,

Fraulein Debby


P. S. Mein Lieblingsgetränk ist übrigens Pfirsich Daiquiri. Ich bin nicht untalentiert im Kartenlesen,

aber etwas verunsichert über dein Rutenangebot.





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