09. ich will candi

09. ich will candi

„Ich fühle einen Sturm herannahen“, sprach Candi wie gewöhnlich laut. „Ich weiss, Freedom ist nicht

fern.“

Candi blickte kritisch auf den Poststempel auf der Rückseite der Karte und stellte fest, dass sie aus

Bakersfield kam. Dies war für sie der einzige Hinweis zu dem Aufenthaltsort ihres lieben Freundes,

der immer unerwartet schrieb. Denn wieder einmal befand sich nur eine Bleistiftskizze auf der Karte,

diesmal eine Glühbirne mit Strichen, die aus der Zeichnung heraus führten um Illumination darzustellen.

Andere Karten mit ähnlichen Skizzen waren in Boston, Baltimore, Berlin, Bratislava und

Bologna abgeschickt worden, einmal mit einer Kerze, ein anderes Mal einer Sonne oder einer Pyramide

oder einem Toaster, sämtlich mit denselben Skizzenstrichen, um Licht, Strahlung, Erleuchtung

oder Hitze darzustellen. Sie heftete sie auf das Korkbrett auf ihrem Schreibtischaufsatz, unsichtbar für

Ralph, zu den anderen bereits erhaltenen.

Als sie weiter ihren Arbeitstisch aufräumte, dachte sie darüber nach, wie ihr Leben zwischen den Tälern

von Sacramento und Fresno hin- und her gesprungen war. Sie waren als Nachbarn und Spielgefährten

aufgewachsen und wollten die Jahre des Erblühens zu Teenagern zusammen erleben, als sie unversehens

aus Sacramento heraus geworfen wurde und mit mit ihren Eltern nach Fresno ziehen musste.

Sie erinnerte sich, dass sie einige Zeit gebraucht hatte um sich an die neue Umgebung zu gewöhnen,

aber in ihrem letzten Schuljahr war sie zur beliebten Anführerin des Cheerleader Teams in

der Bullock Highschool geworden. Doch bedauerte sie, dass unter ihrem Bild und Namen im Jahrbuch

der Schule das Wort ‚Anführerin‘ zu lesen war.

Nach dem Schulabschluss verwendete sie als Ausrede weiter studieren zu wollen um nicht mehr

von den Eltern unterdrückt zu werden und freute sich auf das gemeinsame Studium mit Liberia, die

inzwischen ihren Namen anglisiert hatte. Sie erinnerte sich daran, dass sie beide den alternden Kunstprofessoren

auf die Nerven gegangen waren, für die männliche Kunststudenten Ziele der Begierde

gewesen waren und die schwulen Studenten amüsiert hatten. Zu grösster Belustigung trugen ihre

guten Zensuren bei.

Es drängte sie zurück nach Fresno, bevor sie ihren B. A. erhielt um sich um ihren einsamen Vater

zu kümmern, da ihre Mutter von der Humanvariante von BSE angesteckt worden und daran gestorben

war.

Sie erhielt ein Diplom der Fresno State University und nach einer Reihe von Jobs auf dem Gebiet

der Kunst, deren Arbeitsverträge mangels weiterer staatlicher Finanzierung ausliefen, nahm sie eine

Tätigkeit als Empfangsdame in der expandierenden Agrarwirtschaft auf. Nur kurze Zeit später starb

ihr Vater an dem kalifornischen Valleyfieber.

Freedom liess sich viel Zeit an der Uni, bis sie dann zum M.A. graduierte, und lange danach eine

Beschäftigung suchte zur Rechtfertigung ihrer Qualifikationen. Schliesslich starb ein Hochschullehrer

und nur widerwillig zog sie mit ihrer heranwachsenden Tochter nach Fresno um eine Stelle als

Dozentin für Fotografie im Fachbereich Kunst der Universität anzutreten.

Diesmal zog Freedom bei ihr ein. Die beiden unzertrennlichen Schwestern im Geiste waren wieder

vereint, bis Freedom Candis Chef bei Realife heiratete, kaufte eine Villa in Clovis und gebar eine

zweite Tochter.

Candi war einer Eheschliessung gegenüber etwas skeptisch. Ralph war in Ordnung, besass aber ein

grosses Unternehmen und arbeitete sehr viel. Sie wusste, dass Freedom nicht an seinem Geld interessiert

war oder an dem damit verbundenen Einfluss. Sie erkannte, dass sie einfach an einem gemütlichen

Heim interessiert war und an einem unbeschwerten Leben mit viel Zeit um künstlerisch tätig

zu sein.


Als das Schicksal tragisch zuschlug, erwiesen sich ihre Vorahnungen als richtig. Freedoms zweite

Tochter erkrankte an Knochenkrebs und Ralph widmete sich augenscheinlich mehr dem Geschäftsleben

als seiner Tochter. Sie fand die Situation unerträglich und in den letzten Monaten vor Electras

Tod wollte sie ihren Mann nicht mehr sehen, zog zu ihr und begann sich auf die Scheidung vorzubereiten.

Sie hielt den Zeitpunkt für gekommen sich beurlauben zu lassen.

Nach dem Tod ihrer Tochter verkaufte Freedom rasch fast alles, das sie in Fresno erworben hatte

oder warf es in den Müll oder verbrannte es und unterbrach ihre Zugehörigkeit zur Uni auf unbestimmte

Zeit. Als ihr der Abschluss des Scheidungsverfahrens mitgestellt wurde, packte sie, die auf

Alimente verzichtet hatte, ihre letzten Sachen zusammen und fuhr am nächsten Tag ab. Sie erinnerte

sich an Freedoms letzte Handlung. Sie wollte ein Paar alter Turnschuhe in das ausgetrocknete Flussbrett

des Fresno Rivers werfen als symbolische Geste der Nimmerwiederkehr. Seit fast einem Jahr ihr

Kontakt zu Freedom nur noch im Senden von Postkarten.

Wenn auch Candi Martin damals nicht kennen gelernt hatte, hatte sie von der Affäre gehört, wie

sie oben auf dem Hotel Hyatt in einer Cocktailbar begonnen hatte und wie sie sich bis zu Freedoms

Abschied von der Stadt entwickelt hatte. Das Interesse an dem Mann, der Freedom geholfen hatte,

eine schwierige Zeit durchzustehen, war verflogen.

Obwohl Candi seine politischen Auffassungen meist nicht teilte, spielte sich ihre Beziehung nur

auf der physischen Ebene ab. Sie hatte ihre Spielfähigkeit gesteigert und kannte sein Geheimnis; denn

Martin spielte offen, und das war’s dann. Ihr war klar. dass die Beziehung aussichtslos war und sie

sie doch wegen seiner Ehrlichkeit respektieren konnte.

Sie breitete die ‚Sutters Weekly‘ zum Lesen auf dem Arbeitstisch aus und bereitete die erste Tasse

zu. Den Restkaffee vom Vortag schüttete sie zu der Topfpflanze neben der Kaffeemaschine, füllte die

Thermosflasche der Kaffeemawschine mit frischem Wasser aus dem Kühlbeh.lter wieder auf und

begann neu aufzubrühen. Während es tröpfelte, stellte sie die benutzten Tassen auf ein Tablett und

ging in die Frauentoilette, wo sie im Handwaschbecken ausgespült wurden anstatt zur Bürokantine

am Ende der Halle getragen werden zu müssen.

Die Bürodudelmusik aus den Lautsprechern stieg zur Toilettendecke hoch, und Candi liess sich

ihre Theorie über Männer durch den Kopf gehen, während sie die Tassen abwusch. Sie verglich die

Männer mit Winden und hielt sie für gute Winde. Zum Beispiel dachte sie an ihre Flirts mit Mr. Cole,

einem verheirateten Mann mit Kindern. Beide wussten zwar, dass daraus nichts werden würde, aber

diese warmen Brisen würden zu einem informellen Verhältnis zwischen ihnen beitragen. Wenn die

guten Winde stärker bliesen, entfachten sie glimmende Glut wieder und bewirkten gute Fahrt und

sanftes Segeln. Diese starken Luftzüge bliesen Motivation und Renaissance in ihr Leben und stickige

Luft hinaus. Ihnen entströmten Herbstdüfte üppigen Obsts. Jedoch konnte sich bisweilen eine tropische

Brise ohne Vorankündigung in eine starke Bö verwandeln, die Zeitungen, Bankkontoauszüge,

das Haar, die Libido und Prioritäten zerzausten. Affären mit verheirateten Männern waren nicht selten

so, und die Beziehung zu Martin liess eine Menge heisser Luft umherwirbeln.

Nachdem sie die Tassen ausgespült und auf ein Tablett gestellt hatte, machte sie sich zurecht und

meinte, dass das Gegenteil allerdings ebenfalls zuträfe. Es gab kalte Winde, die durch Mark und

Bein gingen. Nichts konnte wachsen, wenn die schlechten Winde wehten. Sie konnten sich zu Tornados

hochschaukeln und plötzlich aus dem Nichts herabstürzen, alles auf ihrem Weg aufsaugen

und eine Spur der Verwüstung hinterlassen, wenn sie in dünner Luft verschwunden waren. Wie die

schlechten Winde sind auch Männer, die in letzter Minute Termine absagen, Geld leihen und es

niemals zurückgeben und die Grösse ihrer Schwänze zu verbergen suchen, indem übergrosse

Krawatten tragen oder Sportwagen fahren. Sie sind die eisigen Fäuste der Wirklichkeit in der seltsamen

Welt des Heterosex.

Candi wurde bewusst, dass sie laut gesprochen hatte. Sie schaute in den Spiegel und war mit ihren

Überlegungen zufrieden. Sie ergriff das Tablett mit der Tasse und ging hinaus zu der Kaffeemaschine.


Sie bemerkte eine grosse rosafarbene Gebäckschachtel, die auf dem Arbeitstisch lag und begann sie

zu untersuchen.

„Ich hoffe, sie wird dir gefallen.“

„Oh, mein Gott, Martin!“, rief Candi aus und fühlte sich ein bisschen

schwach auf den Beinen. „Du hast mich aber erschreckt!“

„Tut mir leid, Schatz, das war nicht meine Absicht.“ Er tauchte hinter dem Wasserkühler auf. „Ich

hörte was im Radio und dachte sofort an dich.“

„Mensch, Martin, mach das nicht noch mal!“ Sie lief zur anderen Seite des Tisches um Distanz zu

schaffen.

„Was ist das? Was lädst du heute bei mir ab?“, fragte sie und tippte auf die Schachtel. Candi hörte ein

Klingelgeräusch im Ohr. „Abhören!“, befahl sie und beantwortete den Anruf. „Realife. Unsere Chemikalien

sind die Bausteine des Lebens. Candi Powers am Apparat. Womit kann ich Ihnen dienen?“

„Mr. Thorndorn“, sagte eine gedämpfte Stimme am anderen Ende.

„Er ist leider nicht …“ Das Gespräch war unterbrochen.

„Glücklicher Tag für die Empfangsdamen“, sagte Martin stolz, während er an die Schachtel tippte.

„Ja, so ist es, und du hast daran gedacht. Danke, Martin.“

„Ich habe dir einen mit Schokolade überzogenen Schwarzwälder-Kirsch-Kuchen mit Schlagsahne

und kandierten Erdbeeren aus der Bäckerei ‚La Bou‘ mitgebracht. Der wird dir schmecken“, sagte er

und rieb sich den Bauch.

„Oh, Schokolade! Ich danke dir. Wirklich nett. Ich liebe ihn“, fuhr sie fort und machte sich die

ganze Zeit Gedanken darüber, ob die anderen im Büro sich erinnern würden.

„Abhören!“, beantwortete sie einen Anruf. „Hallo, Jim. In Ordnung. Merkwürdig. Ja. Er steht direkt

vor mir. Ja, ich weiss. Er ist früh da. Ach wirklich. Sicher. Sehr gern. Gut. Ich werde früh zu Mittag

essen.“

„Das ist sehr lieb von dir.“ Candi nahm langsam den Deckel ab und liess einen Strahl des Neonlichts

auf das Schokoladenwunder treffen. Sie begann zu speicheln und ihre Lippen zu befeuchten.

Ihre Mägen knurrten gleichzeitig. Candi kicherte und schaute den lächelnden Martin an. Sie enthüllte

das Wundergebäck, das majestätisch seine Pracht in der geöffneten Schachtel entfaltete. Beide verharrten

wenige Augenblicke stehend vor der Schachtel und blickten wie erstarrt auf ihre köstliche

und makellose Schönheit. Der üppige Zuckerduft stieg ihr in die Nase und sie war nicht mehr fähig

sich zusammen zu reissen, rieb ihre Beine aneinander und fühlte, wie ihre Schenkelinnenseiten

feucht wurden. Sie juchzte spitz auf wohl wissend, welch leicht orgastischen Effekt sein Verzehr bei

ihr hervorrufen würde.

„Was für ein herrlicher Kuchen! Schau ihn dir an! Er sieht aus wie eine grosse Schokoladenpraline.

Oh, Martin, wir sollten gleich ein Stück probieren.“ Sie ging hinüber zum Aktenschrank, in dem sie

Dinge für gelegentliche Büropartys aufbewahrte und nahm einige aus dem unteren Schubfach heraus.

Sie beugte sich nach vorn, um Martins Augen Vergnügen zu bereiten, als sie ein Kuchenmesser,

einige Pappteller und eine Tüte mit weissen Plastikgabeln herausholte. Sie kehrte diesmal auf seiner

Seite zu Tisch zurück um den Kuchen anzuschneiden.

„Oh, was für ein prächtigen Kuchen!“ Sie nahm die Klinge hoch. „ Er ist so schön, dass ich ihn gar

nicht anschneiden möchte, aber bevor ich ein Stück davon habe, werde ich mich einfach nicht auf

etwas anderes konzentrieren können.“ Sie trat einen Schritt zurück und bewegte die Klinge an sich

herunter.

„Hier“, sagt Martin und eilte ihr zu Hilfe. Er legte seinen Arm um ihre Hüfte und umfasste einen

Arm. „Ich werde dir helfen.“

„He, du bist etwas wacklig auf den Beinen. Weshalb?“ Sie hielt das Gleichgewicht.

„Oh, es tut mir leid. Ich bin ein bisschen benommen, etwas verwirrt.“ Gemeinsam bewegten sie die

Schneide auf den Kuchen zu, wobei die Messerspitze auf die Mitte gerichtet war. Candi schloss die


Augen, atmete tief ein, äusserte einen Wunsch und liess das Messer sachte durch die drei Schichten

der cremigen Schokolade gleiten.

Sie öffnete die Augen, schmiegte sich etwas näher an Martin und war froh darüber ihn an ihrer

Seite zu haben. Sie nahmen das Messer heraus und machten einen zweiten Schnitt. Sie schob das

Messer unter das Stück, um es von der ovalen Masse freizurütteln. Sie legte es auf einen weissen Pappteller,

reinigte das Messer mit ihren Fingern und leckte die restlichen Schokoladensplitter ab.

Sie murmelte Martin ein kleines Dankeschön zu, dessen Hände nun fest ihre Schenkel streichelten.

Sie war nicht in der Lage zu verstehen, was er ihr ins Ohr flüsterte, aber es klang gut.

„Sag’s noch einmal!“

„Ich habe gesagt: Du bist schön.“ Er bewegte seine Hände langsam enger an den Körper.

„Oh, Martin.“ Sie schmiegte sich noch fester an ihn. „Klingelt dein Mobilphon?“ Sie drehte sich

um ihm auf die Lippen zu küssen. „Wir treffen uns in Mr.

Coles Büro. Ich bringe dir eine Tasse Kaffee mit! Mr. Cole sagte, er werde eine halbe Stunde später

kommen.“

„Willst du dir kein Stück abschneiden?“, fragte er, als er die Schachtel lose um den Kuchen herum

zusammenfaltete.

„Nein, noch nicht. Wir teilen es uns.“





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