15. werbegeschenke

15. werbegeschenke

Sie stand am küchenfenster und suchte nach einem Grund dafür, nicht an der gerade auf ihrem

Monitor laufenden Gymnastiksendung teilzunehmen. Sie sah, dass der Zeichenhebel auf der Mailbox

sich gesenkt hatte. Die Mail war angekommen. Sie blies den Rauch der in ihren Nasenlöchern

brennenden Zigarette von sich und begann zu husten.

Die brennende Zigarettenspitze besprenkelte sie, liess den Stummel in das Ausgussbecken fallen

und ihn im Mülleimer verschwinden, während sie zwischen den Hustenanfällen nach Luft schnappte

und mehrmals einen Schluck Eistee nahm um ihre Kehle zu kühlen.

Der Geschirrspülmaschine entnahm sie einen sauberen Esslöffel und eine grosse weisse Suppenschüssel

mit einem dekorativen Blumenrand, füllte sie mit Schokoladepuffkörnern und goss Milch

dazu. Ihren Mund stopfte sie voll mit einigen Esslöffeln knuspriger Choco Balls, ging kauend in den

Anrichteraum, griff ein Paar Kunstpelzhausschuhe und drückte auf den Knopf des automatischen

Garagenöffners. Sie kam wieder heraus, lief durch die Garage und stiess dabei leicht an ihren Hummer.

Blendendes Sonnenlicht liess sie die zementierte Auffahrt nicht erkennen, als sie die Post holen

wollte.

Dee hatte jahrelang Werbegeschenke angefordert. Die Mailbox bombardierte sie täglich auch mit

unwichtigem Kram. Die persönliche Post ging oft in der Fülle der Werbeflugblätter unter. Einmal, als

sie in der Garage alte Zeitschriften nach einem Rezept durchstöberte, entdeckte sie eine Postkarte von

ihrem Vater, der Jahre vorher gestorben war. Sie war zwischen eine Cover-Chick-Kosmetik-Broschüre

und einen Seas-Candy-Reisekatalog geraten. Es war, als ob seine Stimme zu ihr aus dem Grab sprach,

um ihr von der grossartigen Zeit am See zu erzählen, als sie beim Black Jack und am Buffet an Gewicht

zunahm.

Mit der Post vom Tage erhielt sie ein Päckchen nach Pinie duftende Katzenklounterlage, Cherry-

Werbeexemplare, eine neue Sorte Damenbinden in der Form der Namensschwester und ein Päckchen

Adressenaufkleber mit der Bitte um Spenden für den Bnai-Brith-Orden. Sie hatte so viele Aufkleber

bekommen, dass sie pro Briefumschlag bis zu vier verwendete. Ihr Valley-Armutshintergrund

hielt sie davon ab irgendetwas fortzuwerfen.

Sie nahm die Post, schloss den Briefkasten und wollte ins Haus gehen. Ein an der Garagentür

hochkletternder dreieckig geformter Käfer erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie beobachtete ihn einen

Augenblick und war überrascht über dessen seltsames Aussehen. Das Insekt kannte sie nicht einmal

aus dem Fernsehen. Die Morgensonne spiegelte sich auf seinem regenbogenfarbenen Rücken. Man

sah ein Mosaikmuster aus roten, grünen und schwarzen Punkten. Es war die in den Schleim einer

Auster eingeschlossene Perle, schön, aber schrecklich.

Dee schleuderte den Käfer mit einem Werbezettel von Ronco Drugs auf den Boden, hob ein Bein

hoch und trat mit dem flauschigen Hausschuh kräftig darauf. Als sie ihn unter ihrer Gummisohle

knirschend zerbrechen hörte, war sie über seinen Tod erleichtert, und sie beförderte die zerdrückten

Teile mit einem Tritt auf den Rasen. Das seltsame Tier hinterliess auf dem weissen Beton einen orangefarbenen

cremigen Fleck, zu dem sie später am Tag zurückkehren wollte um ihn fortzuspülen.

Sie betrat das Haus, entledigte sich im Anrichteraum ihrer Hausschuhe, warf die Post auf die

Frühstücksbar und begab sich mit einer grossen, halb mit Eistee gefüllten Plastiktasse hinüber zur

PC-Tastatur. Nach Aufteilung des Bildes widmete sie sich ihrer E-Mail und beobachtete, wie gut gebaute

Kalifornier zu rhythmischer Musik Streck-und Dehnübungen vollführten.


Hallo, Debby,

Ja, ich bin gross, etwa 1.98 m und trage eine Südstaatent.towierung auf dem Rücken, die wegen der

vielen Haare aber nicht zu sehen ist. Celina ist auch meine Lieblingssängerin. Seitdem es möglich

ist, habe ich einen Schnurrbart. Ich lebe auf einer Viehfarm nicht weit von Chico und fahre einen

Hummer mit viel Chrom.

Sechzehn Jahre diente ich in der Armee. Ich bin Christ. In meiner Jugend habe ich einen Fehler

begangen und habe eine Tochter Crystal. Sie wohnt in Sacramento, ich sehe sie nur selten.

Meine Familie stammt aus Austin, Texas. Das Leben dort war völlig anders. Hier sind die Menschen

ziemlich verrückt. Noch immer frage ich mich, weshalb meine Eltern eigentlich hierher gezogen

sind. Manchmal wundere ich mich, warum ich noch hier bin.

Die zusätzlichen fünf Kilo stören mich überhaupt nicht. Ich mag meine Vorstadtkuh wohlgenährt

und auch in Zukunft kann sie so bleiben.

Du kennst ja das Landleben; es ist immer etwas zu tun. Hier ist es wirklich nie langweilig. Auf

einer Hühnerfarm riecht es ziemlich streng; aber daran gewöhnt man sich. Es gibt hier auch einige

Kühe und Schafe. Einsam fühle ich mich nie. Tiere habe ich schon immer gemocht. Wenn du willst,

kannst du schon morgen herkommen und ein neues Leben beginnen.

Dein Photo hängt über meinem Bett. Ich schicke dir auch eins von mir, auf dem zu sehen ist, wie

ein Mutterschaf mir in das Gesicht tritt. Dabei verlor ich zwei Zähne, die zwar ersetzt worden sind. Ich

denke, Dir wird das Bild gefallen. Das Haus im Hintergrund habe ich selbst gebaut.

Mit Gottvertrauen,

Cal Tex.

P. S.: Ich spiele gern um Geld und mag pikanten Saumagen.


Dee rollte die E-Mail langsam herunter um nicht von einem blutunterlaufenen Gesicht geschockt zu

werden. Das grosse Farmhaus im Bildhintergrund fand sie interessant. Sie empfand Mitleid mit ihm,

aber entdeckte hinter dem blaufleckigen, geschwollenen Gesicht eine innere Schönheit in seinen

braunen glänzenden Augen.

Sie weinte schon, bevor sie zu Ende gelesen hatte, stand auf und rann im Haus umher, warf die

Arme hoch und rief laut: „Oh, mein Gott! Oh, mein Gott!“

Vielleicht war ihr Beten doch erhört worden. Endlich interessierte sich jemand für sie nach so vielen

Jahren der Nichtbeachtung. Ihr wurde etwas schwindlig und sie schnickte Choco Balls auf die

Frühstücksbar, während sie zwischen dem Hin- und Herlaufen viel davon ass. Die in ihr schwelende

Glut, die wie ihr schien, jahrelang in ihr geschlummert hatte, begann sich wieder zu entfachen. Der

könnte ihr Mann werden.

„Nun kommen wir zu einer schwierigen Übung. Sind Sie an den Bildschirmen dazu bereit?“, fragte

die Gymnastikleiterin und wippte dabei auf der Stelle.

Dee sprang hinüber zur Tastatur, vergrösserte das Bild auf dem Bildschirm und stellte das Gerät

auf volle Lautstärke. Der pulsierende Aerobic-Rhythmus rührte ihre Seele, sie schob den Kaffeetisch

aus dem Weg und fing an zeitgleich mit der Leiterin zu springen und sich zu drehen.

„Berühren Sie Ihre Zehen! Strecken Sie sich immer wieder! Stehen Sie auf! Nochmals strecken!

Bitte, wiederholen! Eins, zwei, drei, vier.“

Dee folgte dem rasenden Rhythmus, wobei es ihr gelegentlich sogar gelang die Zehen zu berühren.

Bald waren die attraktiven Kalifornier überall und sie war mitten unter ihnen, wie sie zur Seite

sprangen die Arme, Köpfe, Beine und den gesamten Körper hin und her schwangen. Sie begann zu

keuchen, behielt den Impuls bei, bis sie aus Luftmangel zusammenbrach und schweissgebadet auf

ihrem Happy-Hour-Sofa ohnmächtig niedersank.


Nachdem das Garagentor sich hinter ihm automatisch geschlossen hatte, betrat Martin das Haus,

hörte das Telefon läuten und erstaunte über die volle Lautstärke des Fernsehers. Er war nach dem

Unfall bei Realife und der Krankenhausbehandlung nach Hause zurückgekehrt um Dee von seinem

unerwarteten Glück zu berichten. Er hatte sich mit Jack in der Single Duck zu einem Trinkgelage

getroffen um die durch die Stiche erzeugten Schmerzen zu unterdrücken, nachdem das Novocain

nicht mehr gewirkt hatte. Aber seine wilde, fröhliche Stimmung verschwand, als er Dee auf dem Sofa

liegen sah. In einem Panikanfall begann er nach Luft zu schnappen.

Während er japste und sich auf die Brust schlug, um sich von dem Schleim in seiner Lunge zu

befreien, folgte er dem Telefonläuten und erblickte das Telefon auf dem Sofa. Mit rotem Gesicht und

unter heftigem Schlucken stolperte er über den umgestellten Kaffeetisch, als er den Hörer ergreifen

wollte. Als er auf Dee fiel, fiel das Sofa um. Bianca, die ihre Mutter um ein Rezept für eine Süss- und

Sauerfrittata für ein Mittagessen bat, das sie im Hurry-Uppers-Bible-Club organisierte, vernahm den

Lärm und das Dröhnen der Pay-TV-Reklame. Da sie die schrecklichen Laute in dem Fernsehlärm richtig

deutete, rief sie mit ihrem Mobilphon den Rettungswagen zu Hilfe.

Als dieser das Anwesen der Familie Griess erreichte, waren die Helfer gezwungen, die dreifach

gesicherte Eingangstür aufzubrechen, indem sie diese aus dem Rahmen hoben, Der Fernseher war so

laut, dass ein Sanitäter, ohne ihn auszustellen oder den Stecker zu ziehen, eine Axt auf den Ansager

schwang, aber stattdessen die Lautsprecher traf. Dee richtete sich erschrocken auf und griff sich an die

linke Brust.

Die Helfer, die der Anblick der zwei Bewegungslosen verwirrt hatte, waren in der plötzlichen Stille

ebenso überrascht über Dees abrupte Wiederauferstehung. Sie erwogen Mord, auch Selbsttötung und

Vergewaltigung oder auch alle drei zusammen.

Der von Furcht überw.ltigten Dee entwich ein Urschrei und sie musterte schockiert Martins entstelltes

Gesicht, seinen kahl rasierten Kopf und die Äxte tragenden Helfer.

Einige herbeigeeilte Nachbarn versuchten durch die Vorderfenster zu schauen wurden durch das

laute Hupen eines sich nähernden Autos aufgeschreckt. Durchaus Böses ahnend, stob die Menge auseinander

und Bianca fuhr auf den Rasen vor dem Haus. Als sie in Windeseile dem rosaroten Cadillac

entstieg, blieb ein Haarbüschel im Türrahmen stecken. Ihr Kopf schnellte unerwartet zurück, als sie

sich los reissen wollte. Darauf reagierte sie nur mit einem spitzen Schrei und einem Klaps auf ihren

Kopf und stürzte in das Haus.

Die Helfer legten die beiden auf mit Sauerstoffflaschen verbundenen Tragen. Dees Augen waren

voller Tr.nenflüssigkeit, so dass Mascara über ihre geschwollenen Wangen lief. Martin war in übler

Verfassung, denn er wurde immer wieder bewusstlos.

Als die Tragen zu dem wartenden Krankenwagen gerollt wurden, erlangte Martin das Bewusstsein

wieder, sagte: „Dies ist der Zauberwald“, und blickte zu der flach liegenden Dee hinüber, „und sie

ist die Queen Box.“

Bianca brach in Tränen aus.





Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

02. es dämmerte dee / dees dämmern / dee dämmern / dee dämmern / dämmern / dee

Kranke Sakramente - Anmerkung des Autors

04. sonniger tag im wirklichen leben