17. zitronenrille

 17. zitronenrille

Micky Hill lehnte sich zurück auf einen Gegenstand, den er gern besass: einen gebrauchten Ford

Galaxy 500, den er von Jolly Jack’s Used Car Lot an der Franklin-Allee gekauft hatte. So zuverlässig, wie

er war, so bewahrte er auch eine stilvolle Atmosphäre der Originalität. Der Galaxy 500 hatte noch seine

ursprüngliche Farbe und seine roten Vinylsitze. Bis auf den Zigarettenanzünder war alles in Ordnung.

Die Beulen in der Motorhaube und in den vorderen verchromten Kotflügeln waren schon

vorhanden, als er das Fahrzeug aus dem Geschäft herausgefahren hatte. Nun, da sie Bruchstellen und

Rostflecken zeigten, bildeten die Beulen ein Element organischer Natur, das Micky beeindruckte.

Er hatte den Rücksitz ausgebaut und durch eine Schaumgummimatratze ersetzt. Toilettenartikel

hingen am Kleiderhaken in einem ‚Clinque‘-Kosmetikbeutel aus Plastik. Er hatte das Innere ausgeschmückt

mit postkartengrossen Arbeiten auf Papier und mit Fotoroids, die er hergestellt hatte, als das

Galaxy sein Zuhause war, und er hatte die Straßenkarte von Sacramento auf das Dach geklebt. In den

Schlitzen steckte ein großes Sammelalbum, das er zur Darlegung der Chronologie seiner kreativen Bemühungen

verwandte, ebenso ein Musikalienkasten mit einem Altsaxophon, Bierdosen und eine

überdimensionale Schachtel mit Tortilla Chips.

In Reichweite befanden sich im Handschuhfach seine Fotoroid-Kamera und Päckchen mit Teriyaki

Beefys, falls er Lust zu fotografieren verspüren sollte oder einen kleinen Imbiss würde einnehmen

wollen. Zur Heimunterhaltung diente das Autoradio. Bescheidenes Milieu für ein Jahr. Mickys Leben

war auf die maximalen Möglichkeiten reduziert.

„Micky! Hallo, Micky, sieh mal, was ich gefunden habe!“ Denver hatte angehalten um einen Flyer

zu lesen, der an der Telefonsäule neben dem Briefkasten befestigt war. „Schau mal! Es sind die Art

Angles.“

„Was?“

„Die Art Angles. Du weisst: die Art Mayor-Kampagne letztes Jahr in der NoToDo-Galerie. Er riss

den Flyer von der Säule ab. „Erinnere dich an die Flyer jenes Girls, das sich Art Angles nannte! Du

weisst: diejenige, die zu einer Revolution gegen die Ausstellung aufrief.“

„Oh je. Revoltiert sie noch?“ fragte Micky.

„Anscheinend. Vielleicht ist der Flyer schon alt, aber er sieht neu aus.“ Er las den Titel laut vor, als

er auf den angelehnten Micky zulief.

Die Art Angles fordert: „Verschlingt die Reichen!“

„Fahr weiter!“ Micky zog ein letztes Mal an der Zigarette, die er halb zu Ende geraucht

in dem Galaxy-Aschenbecher gefunden hatte und schnippte sie auf die schwarz geteerte Strasse.

„Lies mal, was darauf steht und ich werde dir sagen, ob er alt ist oder neu!“

Denver betrat den Gehweg, formte eine Hand zur Faust und verkündete kühn:

Die selbsternannten Art Angles verkündeten heute:

Hört auf, den Ultrareichen die Rosette zu lecken!

Um eine Stellungnahme gebeten,

erklärte der Art Angle mit müder und ersterbender Stimme:

„Die Botschaft wurde letzte Nacht verkündet,

als ich geweckt wurde durch eine zwei Meter hohe Erscheinung

der Martha Spitz.


Sie schwadronierte und ereiferte sich über Wirtschaftskriminalität

und muss wohl zusammengeschlagen worden sein, denn sie sah nicht allzu gut aus.

Sie sagte mir, sie werde bei der nächsten Wahl zur Art Queen kandidieren

und werde die Republikaner und die Demokaraten nicht mehr unterstützen.

Auf die Frage, wie sie ohne Fleisch leben wollte,

stellte die Art Angles schlicht fest:

„Indem ich den anderen helfe, für sich selbst zu kochen.“

Was ist ihr Rezept? Was kocht sie gerade?

und wirst du zum Essen eingeladen?

Senden Sie ihre Kochrezepte an:

Bürger für ein wohlschmeckendes Morgen.

Poste Restante, Sacramento, California 95814

Die Kohle ist heiss, wartet nicht länger!

Heil Peace!

„Heil Peace! Das ist großartig. Ich werde anfangen das zu sagen. Es ist etwas Neues. Ich kann in dieser

popeligen Stadt immer noch nicht glauben, dass wir nicht wissen, wer die Aktion durchführt. Aber

wir hätten sicher Spass daran, den Leuten Namen mit ‚Art Soundso‘ zu geben.“

„Ja, es machte Spass, das weiter zu spinnen. Lass mich sehen, ich war der Art Martyr aus offensichtlichen

Gründen. Und Grant Hughs war der Art Grant, weil er uns von jeder Scheiss-Stiftung erzählt.

Wie er alles finanziert, sogar Klopapier.“

„Und vergiss Joe Ramsy nicht, den Art Hengst und natürlich auch nicht Art Natty, die, glaub’ ich,

ein großartiger Art Mayor wäre!

„Aber, weisst du, es ist komisch, wie ein Name manchmal haftet?“ Denver faltete den Flyer zusammen

und steckte ihn in seine Gesässtasche. Er ging danach hinter das Galaxy zur Beifahrerseite,

hielt inne und bemerkte, dass die Jesus-Statue aus Zement vor dem Rückfenster fehlte. „He, Art Mist,

wo ist das Heiligenbild menschlichen Missbrauchs, das ich dir gegeben habe?“

„Ich bin nicht Art Mist, ich bin Art Loch.“, murrte Micky und schloss das Galaxy auf. Steve ist Art

Mist wegen seiner Pupstonskulpturen.“

„Nein, das ist er nicht. Er ist der Art Fuck wegen seines Nachnamens. Nun, wo ist Jesus?“, äußerte

Denver spitz.

„Oh, Mann, ich hab vergessen es dir zu sagen.“ Micky setzte sich hinter dem Rad nieder. „Weisst

du, ich hatte ein Problem, ein Platzproblem. So liess ich die Statue bei Roger.“

„Du gabst sie dem Art Pharao“, erwiderte Denver.

„Ja, dem Art Pharao. „ Micky lachte. „Das ist ein guter Name für ihn. Steig ins Auto!“

„Okay, Art Loch.“ Denver gelangte mit dem Kopf nach vorn ins Galaxy und begann aufzuräumen.

„Du weisst, mein Vater hatte einen Galaxy Ford, sogar in derselben Farbe. Hab’ ich dir mal ein Bild

davon gezeigt?“

„Ja, du wolltest mir eine Kopie davon anfertigen. Ich hätte sie immer noch gern.“

„Du bekommst die, wenn wir Jesus wieder sehen. So, wie wär’s, wenn wir’s in seinem Haus

machen? Warum handelst du mit Müll, den er einfach so hinauskotzt, ohne jemandem zu nützen,

nicht mal ihm selbst?“ Denver schüttelte den Kopf. „Weisst du, ich glaube, wir haben Jesus für immer

verloren.“

„Fass ihn sanft an! Seine Frau wurde kürzlich geschlagen, weil sie sich vordrängelte. Er wird es

zurückgeben. So ist Jesus eben. Er kommt bestimmt wieder her“, sagte er zu Denvers Beruhigung.

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„Jesus, Micky!“ Er klopfte ihm auf die Schulter und ging zurück, um Artefakte in die Rücksitzschlafstelle

zu werfen. „Du weisst, wie er ist. Warum brauchte er plötzlich einen Jesus?“

„Um für ein Wunder zu beten? Ich weiß es nicht. Ich vermute, es hat etwas mit dem Film zu tun,

den er gerade dreht. Er hat diese verrückte Tusse Belinda Johnson, die Art …“ Er schaute Denver an und

zeigte auf ihn.

Denver dachte einen Augenblick nach und beendetet den Satz: „… Diva.“

„Genau, die Art Diva, die mit ihm arbeitet.“ Sie schlugen die Hände in Macho-Manier zusammen.

„Es ist sicher interessant, das Endergebnis zu erfahren. Sie baten mich, Sax zu spielen. Sicher bist du

irgendwie involviert; du kennst diese Intra-Grid-Projekte.“

„Weiss nicht. Das Buch mit Roger ist fast zu Ende. Ich werde wohl nicht dort hingehen“, pustete

Denver. „Noch mehr als Delta-Müll ist er katholischer Delta-Müll. Er wird die kleine Jesus-Statue

mögen und wird sie behalten wollen. Denk an meine Worte!“

„Gut, Art Martyr. Immer jammern über irgendetwas. Du bist ein Art Arsch. Nun hör auf sauberzumachen

und rein ins Auto!“ Er startete den Wagen. „So, wie war ‘s Geschäft?“ fragte Denver

streng und zog die Tür zu. „Ich kenne dich, Micky. Roger bekam Jesus, und was hast du bekommen?“

Micky startete den Wagen und das Aufheulen des Motors machte es Denver schwer seine Antwort

zu verstehen.

„Sag’s noch mal! “ forderte er.

„Ich sagte“, Micky sprach mit erhobener Stimme, „ich brauchte Platz um diesen Neon-Kram aus

dem Crest-Theater aufzubewahren.“

„Oh, heiliger Bimbam!“, Denver schlug sich mit der Handfläche an seine Stirn. „Ich hab’ alles vergessen

und nun ist alles bei Roger!“

„Ja.“ Micky klopfte auf das Steuerrad. „Alles ist bei Roger und ordentlich gelagert.“

„Gesagt, getan. So sprach der Pharao. Oh, ein schlimmer Tag.“, jammerte Denver. „Warum hast

du es nicht bei mir in der Kommune verstaut? Das Zeug ist wertvoll, dieses Neon-Zeug.“

„Logistik.“

„Logistik. Na klar. Ich habe genügend Gegenstände in deinem Haus gelagert. Das Neon-Zeug und

manche meiner anderen Sachen wurden in Wendys Haus untergestellt, und Roger wohnt gegenüber.

Ich habe Wendy besucht. Sie bat mich, meinen Trödel fortzuschaffen. Typisch. Wie nannten wir sie?“

„Ich glaube, wir gaben ihr den Namen Art Goddess.“

„Ja. Der passt zu ihr. Sie ist die Art Goddess, die in ihren New-Age-Roben aus dem Outback-Sales-

Katalog herumstolziert. Jedenfalls benötigt Miss Art Goddess vielleicht mehr Platz für eine Kollektion

Conga-Trommeln, so wie Roger, der zufällig vor seiner Hütte herumwandert und sich am Sack

kratzt, sagt, dass er sie nehmen werde. Vielleicht hab’ ich vergessen, dir davon zu berichten, denn es

war in Windeseile passiert. Als ich aufbreche, sieht Roger Jesus im Fond des Galaxy und wir werden

handelseinig. Ich lagere ein, er betet. Ich hab’ mehr Platz, er hat mehr Götter.“

„Nun, ist das etwa nichts? Solch ein Mist. Tschüss, Jesus! Huh-Huh!“

„Vergiss es, Art Arsch!“, sagte Micky und legte einen Gang ein.

„Organisieren wir die Art Boo in Stockton?“

„Weisst du was? Ich hab’ keine Lust Vella in ihrem Tal zu besuchen.“

„Ich eigentlich auch nicht. Wie wär’s denn damit, ein Multiplex-Wohnhaus am Hang der Sierra

Madre mit Schwimmbad und all den anderen Annehmlichkeiten zu suchen?“

„Richtig. Wie wär’s mit Lemon Heights? Ich habe Lust auf ein Sonnenbad und einige Mädels – für

dich wären’s Jungs – und einen Blick in ihren Kühlschrank.“

„Mensch, Micky, das wird nicht klappen! Ich gehör’ zu einer sexuellen Minderheit. Wir treffen uns

nicht in solchen Vorstadt-Wohnanlagen mit Gemeinschaftsschwimmbädern. Wir sind da sehr eigen.

Wir treffen uns nur in modrigen Kirchen, Diskos genannt, zum Liebestanz. Dies ist Sacto, und hier


gibt es nur simplen Verkehr mit der Gier nach feuchter, romantischer Liebe im Kopf. Alles, was die

sich wünschen, ist zu heiraten und sich an die banale Hetero-Welt anzupassen.“

„Nun denn. Wohin soll’s gehen? In eine Schwulenkneipe zum Billardspielen?“ Er zögerte einen

Augenblick und fuhr dann das Galaxy sehr langsam weg vom Bordstein.

„Nee. Fahren wir lieber nach Lemon Groove über die I-80.“ Denver zeigte nach Osten in Richtung

Autobahn. „Mein Sinn ist nicht nach eingezäunten Wohnanlagen und Wachhunden am Schwimmbeckenrand.

Hast du noch ausreichend Benzin?“

„Natürlich, du Arsch. Ich hab’ dir doch gesagt, dass ich gestern an der Little-Cheaper-Tankstelle

voll getankt habe.“

„Ach ja, die Schnecke mit ihren Honigmelonen, der Duft eines Katzenhinterns in einer schwülen

Sommernacht, Luv-To-Suc.“

„Getränke und Naschereien?“

„Ja, wir brauchen Pap’s Bier, Lucky Puffs und die ‚Sutters Weekly‘. Fahren wir zum Kwicky-Markt.

Ich hab’ genug Geld ungefähr für ein Drittel.“

„Hier ist noch etwas mehr Geld.“ Micky kramte ein paar Dollar aus der kleinen rechten Jeanstasche

heraus und gab sie Denver. „Wir gehen zuerst ins ‚Bum ’n Burn‘ und holen uns Kaffee und vielleicht

einige Honigschnecken.“ Er lächelte Denver zweideutig an. „Und dann drehen wir um und steuern

auf ‚June’s Choice‘ zu.“

„Wie auch immer.“

„He?“, fragte Micky. „Könntest du mir einen Gefallen tun? Irgendwo hier …“, er gestikulierte in

Richtung des Armaturenbrettes mit beiden Händen, „ist ein Zettel mit der Adresse der Tusse. Suche

ein bisschen, ich will ihn nicht verlieren!“

„Ja, richtig, Micky. In diesem Auto gibt es Unmengen von Zetteln. Es ist wie ein fahrendes Pulverfass.

Wie sieht er aus?“

„Er hat etwa Postkartengrösse und zeigt die Abbildung einer Glühbirne.“

„Oh, Mensch! Ich erinnere mich, so etwas gesehen zu haben, als ich den Kram hier verstaut habe.

Ich meine, ich hätt’s hier hingelegt.“ Denver sichtete die Zettel, die zwischen Windschutzscheibe und

Armaturenbrett steckten. „Guck mal! Ist es der? Da steht ’ne Internet-Adresse darauf.“ Er drehte ihn

um. „Sieh mal, Micky, was auf der anderen Seite steht: Prediger Dan!“

„Mensch! Das hab’ ich nicht gesehen. Heiliger Strohsack! Noch einer. Warum treffe ich immer

Anhänger von Prediger Dan?“ Er trat aufs Gaspedal. „Warum bin ich so beliebt bei ihm?“ Micky griff

in das Steuerrad, manövrierte das Galaxy nach Osten und stellte die Koordinaten auf das ‚Bum ‘n

Burn‘ ein.

„Du freust dich bestimmt auf eine Tasse Java-Kaffee. Ich leg’ die Karte dahin zurück, wo sie ich sie

gefunden habe. Schau!“

Micky blickte dorthin, wo Denver die Karte eingeordnet hatte. Die Unterhaltung stockte, als er das

Galaxy auf die offene Strasse lenkte.

„Hast du ’ne Ahnung, wer eine tolle Madonna-Statue besitzt?“

„Wer?“ Micky schaute Denver neugierig an.

„Meine Eltern.“

„Gut zu wissen. Meinst du, dass sie bereit sind sie wegzugeben?“





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