04. sonniger tag im wirklichen leben

 


04. sonniger tag im wirklichen leben


Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee erfüllte die Lobby von Realife, während Büroklammern vom Fussboden aufhob. Candi hatte das automatische Büroklammerger.t angestellt, als sie ihre weisse Handtasche auf die Theke geschleudert hatte. Explosionsartig hatte es Klammern überall auf ihrem Arbeitsplatz verstreut. Auf allen Vieren kroch sie hinter den Schreibtisch und hörte jemanden leise niesen. Verwirrt verharrte sie eine Sekunde lang regungslos, erhob sich plötzlich und streifte mit ihrer

Schulter eine Ecke des Tisches.

„Au, verdammt! Oh, hallo! Verzeihung! Ich wusste gar nicht, dass noch jemand hier ist“, sagte sie, rieb sich die Schulter und warf einen Blick auf ihren Dienstkalender. „Sie müssen …“

„Martin Griess von der Werbefirma Madd&Sons. Ich bin um neun mit Mr. Cole verabredet.“

„Sie sind etwas zu früh gekommen, Mr. Griess. Mr. Cole ist noch nicht da. Bitte, nehmen Sie Platz!

Er muss gleich kommen.“

„Danke! Übrigens, ich sah Sie gerade Heftklammern aufheben. In meiner Tasche habe ich etwas, das dazu dient, sich nicht mehr bücken zu müssen.“

Sie dachte, das stimme sicher, fragte aber stattdessen: „Eine Million Dollar?“

„Nein!“ Er stellte einen Kasten auf die Theke vor Candis Arbeitstisch. „Nanoklammern sind das neueste Erzeugnis der Firma ‚Acme Office Supply‘. Wir vergeben Muster zum Ausprobieren. Die Klammern enthalten einen Nanorechner, damit sie dorthin zurückkehren, wo der kleine Chip sich jeweils befindet. Sie brauchen ihn nur an ihrem Zielort anzubringen. Die Klammern verhalten sich wie Ameisen. Es könnte einige Tage dauern um zum Arbeitspult zu gelangen, besonders dann, wenn es nicht aufgeräumt ist. Aber die Klammern können an Wänden hochklettern und sich auf allen Flächen

bewegen, ausser auf Metall und Marmor.“

Während Martins Erklärung hatte Candi ihr Geschenk untersucht. Sie hatte den Kasten geschüttelt, den Inhalt auf ihrem Tisch ausgebreitet und befestigte nun Klammern an den Fingern ihrer linken Hand.

„Aber was geschieht, wenn ich nicht möchte, dass sie sich sammeln?“

„Wenn Sie sie verbiegen, bewegen sie sich nicht mehr.“

„Aber wie gelingt es sie zu reaktivieren?“

„Unmöglich! Wenn sie ihre Form erst einmal verbogen haben, ist die Verbindung unterbrochen. Sie können sie dann zwar noch als normale Klammern weiter verwenden.“

„Was bedeutet das? Wenn ich sie verbiege, habe ich sie ausser Funktion gesetzt?“

„Na, so ungefähr.“

„Ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, dass die Klammern nicht mehr funktionieren.“ Sie zögerte kurz und hielt ihre linke Hand hoch. „So, das ist nun die Eine-Milliarde-Dollar-Madison-Frage, bevor wir fortfahren und nicht mehr über Büroklammern sprechen. Sind diese Klammern eigentlich notwendig?“

„Nun, sie sind halt ein Muster für Sie zur Erprobung, wenn Sie wollen. Lassen Sie mich wissen, was Sie davon halten!“

„Na, wie kommt es denn, dass ich einen deutlichen Druck an meinen Fingerspitzen verspüre?“

„Wie? Lassen Sie mich mal sehen!“ Er hob den Kasten hoch. „Ach! Ich habe Ihnen ja den falschen gegeben. Verzeihung! Das sind ja die Nanoklammern, die als nächste verkauft werden sollen. Sie sind so konstruiert, dass sie durch Gebrauch fester werden und ihre ursprüngliche Form immer wieder erlangen. Keine verformten Klammern mehr!“

„Ich denke, die übertreffen die beweglichen Klammern bei weitem. Ich glaube nicht, dass Büromaterial sich über meinen Schreibtisch bewegen soll. Es gibt auch sonst schon genügend Bewegung.“


„Nun, eigentlich soll ich sie den Kunden nicht geben. Noch sind sie nämlich nicht sicherheitsgeprüft worden, da sie gerade erst die Werkstatt verlassen haben.“ Er öffnete seine Mund um zu niesen, konnte es aber noch rechtzeitig unterdrücken.

„Und kommt der feuerrote, wanzenartige Gegenstand auch gerade aus der Werkstatt?“

„Oh! Dieser da? Er soll ein Glücksbringer für Bowlingspieler sein.“ Dann entfernte er die bowlingkugelartige Wanze mit den glutroten Augen von seinem Sakko und legte sie auf die Theke.

„Bowlen Sie?“

„Ja, in der Meisterklasse.“

„Ich auch. Wie hoch ist ihr Durchschnitt?“

„Er schwankt schon jahrelang um 280.“

„Aber nicht schlecht.“

„Danke. Doch glaub’ ich nicht, dass die Wanze sehr leitungsfähig ist. Sie hat mehrmals versagt und unsere Mannschaft versagte gestern Abend auch.“

„Schade. Sie kennen Mr. Griess …“

„Nennen Sie mich …“ Er nieste. „Martin.“ Er zog ein Taschentuch aus seiner Manteltasche. „Tut

mir Leid. Allergien! Diese Jahreszeit macht mich fertig.“

„Sie wissen, Martin …“, sagte sie zögernd. „Dinge mit rot glänzenden Knopfaugen erinnern mich, besonders wenn sie glühen, an Horrorfilme.“ Candi starrte auf den Gegenstand, hielt eine Hand ans Kinn und sann darüber nach, wie sie allzugern mit ihrer Handtasche sie zu treffen versuchen würde.

„Und wo bowlst du?“, fragte sie in die Stille hinein.

„Bei Radka Lanes, und du?“

„Im Fruit Center, und du auch bei Radka Lanes. Mensch! Nur für Mitglieder. Wer hat dir das ermöglicht?“

„Ich erlangte Eintritt durch die Arbeit.“ Er lächelte. „Du kannst die Wanze behalten, wenn du willst.

Vielleicht bringt sie dir Glück.“

„Der Kaffee ist fertig. Möchtest du etwas davon?“

„Ich schenke ihn mir schon ein. Möchtest du auch eine Tasse?“

„Natürlich! Leicht und süss und hier …“ Sie hielt Martin die Wanze hin. „Du kannst die neben die Kaffeemaschine legen. Vielleicht nimmt jemand sie mit.“

Er nahm die Wanze und liess seine Finger sanft ihre Handfläche berühren. „Ich sehe, du freust dich nicht sehr darüber.“

„Nicht besonders.“

Martin ging zur Kaffeemaschine hin und vermutete Candi würde ihn beobachten. Er sah einen Kupferpenny und beugte sich vor um ihr einen guten Blick zu gestatten. Er ging weiter, füllte zwei Tassen mit Kaffee ohne einen Tropfen zu verschüttern, fügte ihrer Tasse Zucker und Sahne hinzu und liess sie beim Umrühren leise erklingen.

Nun, dachte sie, es ist schließlich kein schlechter Tag. Sie beobachtete, wie der attraktive Werbefachmann sich ihrem Schreibtisch näherte.

„He! Du hast eine Klammer übersehen.“

„Wo denn?“ Candi schien wirklich überrascht, dass eine ihrer Aufmerksamkeit entgangen war.

„Dort neben den Aktenordnern.“

Ohne nachzudenken, ging Candi dorthin, um die übersehene Klammer zurückzuholen.

Martin beobachtete, wie Candis üppige Brüste den Stoff ihrer grau und rosafarben bedruckten Trikotbluse spannten, als sie sich vorbeugte. Candi bemerkte, wie Martins lüsterne Augen ihren Busen erblickten und atmete schwer, als sie sich langsam aus ihrer Beugehaltung wieder erhob.

„Du liest also die ‚Sutters Weekly‘? Er lehnte sich auf die Theke und deutete auf die dort liegende Boulevardzeitung.


„Ja, denn darin findet man die seltsamsten Geschichten, letzte Woche zum Beispiel die über einen Typ, der nach der Arbeit mit Industriefutter an BSE erkrankte. Er hatte anfangs Schaum vor dem Mund und und starb im Stehen.“

„Mensch, grauenvoll!“

„Ja, und dann gab’s da eine Geschichte über eine seltsame Frau, die in Nevada City ins Krankenhaus gebracht wurde. Als sie ihr Blut abnahmen, entwichen ihren Venen Gase, die die Krankenschwestern töteten.“

„Du liest gern so etwas?“

„Das fördert meinen Drang zum Eskapismus und ich mag besonders solche Geschichten, die zur Verschönerung der Wirklichkeit beitragen. Danke.“ Sie nahm einen Becher Kaffee von der Theke und setzte sich, um Martin einen entspannteren Blick auf ihr Dekolletee zu ermöglichen. Er nahm einen Schluck Kaffee und zuckte zusammen. „Oh, der ist aber stark! Wie lange bowlst du eigentlich schon?“

„Na ja, ich spiele einige Male im Radka. Möchtest du vielleicht mal vorbeischauen? Es ist toll nach einem harten Arbeitstag zu entspannen. Wie wär’s damit mich am nächsten Dienstag zu begleiten?

Ich könnte dich ja nach der Arbeit abholen.“

Sie blätterte in dem Dienstkalender einige Seiten weiter. „Dienstag habe ich wahrscheinlich frei. Die Wettbewerbsspiele finden am Donnerstag statt. Du brauchst mich aber nicht abzuholen. Wir können uns auch dort treffen.“

„Wie wär’s mit sechs?“ Martin fand kaum Zeit seinen Kaffeebecher abzusetzen, bevor er mächtig Luft holte und nieste, so dass der Wasserbehälter gluckerte.

„Sechs passt mir sehr gut. Mann, das hört sich aber schrecklich an! Nimmst du nichts dagegen?“

„Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, sechs. Treffen wir uns an der Bar!“ Martin wischte sich die Nase. Es hat gerade erst angefangen Ich hab’ meine Tabletten im Wagen.

„Möchtest du ein Antiallergikum nehmen? Ich hab’ so was im Portmonee.“

„Ja, sicher. Danke.“ Martin lehnte sich an den Tresen und sah zu, wie Candi in ihrer Geldbörse zu suchen begann. Ohne zu fragen, ging er um ihren Schreibtisch herum und hob eine weitere Klammer auf und gab sie ihr. Sie zeigte auf den magnetischen Büroklammer-Automaten und während sie die Klammer an ihren Platz zurücklegte, entdeckte er die Postkarte, die sie morgens auf den Tisch gelegt hatte.  „He! Ich hoffe, es macht dir nichts aus, wenn ich neugierig bin, aber die Karte auf deinem

Schreibtisch kommt mir sehr bekannt vor.“

„Wie?“ Sie drückte eine Tablette aus der Schutzfolie heraus und gab sie Martin zusammen mit der Postkarte. „Oh! Sie kam gestern mit der Post.“

„Ich hab’ auch solch eine Karte.“

„Wirklich? Ich hab’ eine ganze Sammlung. Sie zeigte auf die anderen, die an ihre Kabine geheftet

waren. Sie stammen von meiner Freundin Freedom.“

„Freedom? Er steckte die Pille in den Mund und schluckte sie rasch mit etwas Kaffee herunter. Du kennst Freedom?“

„Das kann nicht wahr sein! Woher kennst du sie?“

„Ja, ich kenne Freedom. Gelegentlich erhalte ich auch Postkarten von ihr wie diese und zwar immer mit demselben Motiv.“

„Ja, immer mit dem Dreieck und den zwei Kreisen, die Busen ähneln – wie diese.“ Sie zeigte auf sie und Martin beugte sich vor um sie genauer zu untersuchen.

„Weisst du? Ich glaube, ich hab’ sogar eine aus der Serie, nämlich die mit den zerschnittenen Geldscheinen ausländischer Währung.“

„Eine der ersten. Wart’ mal! Oh mein Gott!“ Candi stand plötzlich auf und führte eine Hand zum Mund. „Also der bist du? Kennst du Ralph?“

„Wer ist der?“ Martin stand ebenfalls auf.

„Freedom’s Ex.“


„Ich weiss etwas über die Geschichte, hab’ ihn aber nie kennen gelernt. Er heisst Ralph, nicht

wahr?“

„Ja, richtig! Hat sie jemals den Namen Candi erwähnt?“

„Ja, sie wohnte in ihrem Haus, das ich ja kenne. Bist du etwa diese Candi?“

Sie nickte.

„Du hast ein grossartiges Haus und es ist wirklich schön eingerichtet und in einem angenehmen Wohnviertel mit niedriger Kriminalitätsrate gelegen.“

„Meine Eltern kauften es nach dem Krieg mit Veteranenkredit.“

„Es muss jetzt zehnmal so viel wert sein wie damals. Das steht in einem aufstrebenden Viertel.

Jetzt würde man eine halbe Million dafür bekommen.“

„Ja, meinst du wirklich? Aber aufstrebend für wen?“

„Solche, die es sich leisten können so viel Geld hinzublättern?“

„Ich weiss nicht, ob ich solche Leute gern in meiner Nähe hätte. Sie fahren Autos der Marke Hummer, und davon fahren wirklich schon zu viele herum.“

„Weisst du? Dieser Ralph – ich meine Mr. Thorndorn – ist der grosse Boss dieser Firma.“

„Also, Mr. Thorndorn ist Freedoms Ex Ralph?“

„Ja, genau! Ich bin hier nur aus Treue zu Freedom, hab’ ich mich einige Zeit zurückgezogen, als mir

alles zu absurd wurde. Aber Freedom wollte nicht, dass ich aufgab. Ausserdem konnte ich sie nicht enttäuschen, das heisst: mit ihrer Tochter und allem …“ Sie beugte sich vor, blickte dann auf und lächelte gezwungen.

„Das hat sie mir schon erzählt.“ Er ergriff ihre Hände. „Ich kannte sie nur wenige Monate. Dann ging sie fort ohne sich zu verabschieden. Etwa einen Monat später sandte sie mir eine Postkarte mit der Zeichnung eines Toasters auf der Rückseite. Ich denke, das war ungefähr vor einem Jahr. Seitdem habe ich nur noch eine erhalten.“

„Guten Morgen!“ Ein kleiner kaugummikauender Manager kam herein.

Martin schaute überrascht und wandte sich von Candi ab.

„Es ist in Ordnung“, flüsterte Candi und begrüsste den Mann. „Guten Morgen, Mr. Cole. Dies ist Mr. Griess.“ Sie lächelte.

Martin nieste.




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